Erfüllte Zeit

08. 08. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Vom wahren Schatz“ und

„Das Gleichnis vom treuen und vom schlechten Knecht“

Lukas 12,32 - 48

 

 

von Reinhold Esterbauer

 

 

„Auf Briefe warten ist schwer“, schreibt der Lyriker Paul Celan an die Dichterin Ingeborg Bachmann. Wenn der Gang zum Briefkasten umsonst ist und man nicht zu lesen bekommt, was einem die geliebte Freundin sagen möchte, fällt das Warten in der Tat schwer.

 

Auch wenn heute E-Mail und SMS Briefe mehr und mehr verdrängen, erfordert das Warten auf persönliche Post immer noch Langmut. Zu warten widerspricht zwar dem gegenwärtigen Trend fortschreitender Beschleunigung. Die eigene Ungeduld macht einen aber immer wieder darauf aufmerksam, dass trotz Informationstechnologien nicht alles sofort zu haben ist und dass vor allem Menschen immer wieder auf sich warten lassen.  

 

Vor diesem Hintergrund überrascht Jesus im vorgetragenen Text aus dem Lukas-Evangelium: Er wendet sich nicht gegen Wartende, sondern preist sie sogar selig. Zweimal heißt er Knechte und Mägde glücklich, die darauf warten, ihrem Herrn, der auf einem Hochzeitsfest feiert, das verriegelte Tor aufzuschließen, besonders wenn sie bis zum Morgengrauen aushalten. Aber auch ein treuer und kluger Verwalter wird gerühmt, weil er ausharrt, bis der Eigentümer zurückkommt, und in der Zwischenzeit seine Aufgaben zuverlässig und verantwortungsvoll erfüllt.

 

Jesus zeigt, dass Warten keine sozialen Schranken kennt. Die Geduld von Knechten und Mägden wird genauso auf die Probe gestellt wie diejenige von Hausherren und Verwaltern. Sie warten auf ihre Vorgesetzten oder auf nächtliche Diebe.

 

Doch wen erwarten diejenigen, für die Jesus die drei kurzen Gleichnisse erzählt? Jesus spricht vom Warten auf den Menschensohn.

 

Hört man diesen Text, so irritiert er nicht nur wegen seiner positiven Bewertung des Wartens. Es fehlt einem heute zudem die Vorstellung davon, was das angekündigte Kommen des Menschensohnes meint. Ist die Wiederkunft Jesu Christi am Ende der Welt gemeint? Oder ist die Begegnung mit Gott im eigenen Tod angesprochen? Ist sein Kommen womöglich sogar mit dem Gericht über die Welt oder das eigene Leben verbunden? Und wie hätte man sich so etwas vorzustellen? Für solche Fragen bietet der vorgelesene Text keine Antwort. Er gibt keine Auskunft darüber, was das Kommen des Menschensohnes besagt oder wie man sich bei diesem Ereignis zu verhalten hat. Aus dem Lukas-Evangelium wird nicht mehr deutlich, als dass der Titel „Menschensohn“ diejenige Gestalt meint, die in der Endzeit mit Gottes Vollmacht auftritt.

 

Obwohl der Textabschnitt in der Beschreibung über das angekündigte Ereignis vage bleibt, liefert Lukas Hinweise dafür, was es heißt, auf das Kommen des Menschensohns ausgerichtet zu sein. Nicht den Ereignissen am Ende gilt seine primäre Beachtung, sondern dem Warten, das heißt dem Leben vor dem eigenen Tod und vor dem Ende der Welt, also im Hier und Heute. Jesus macht klar, dass zu leben warten heißt.

 

Entscheidend für das glaubende Warten ist, dass der Zeitpunkt, wann das Ende eintrifft, ungewiss bleibt. Jesus plädiert einerseits für die Überzeugung, dass Gott einmal umfassende Erlösung bringen wird, und lenkt andererseits die Aufmerksamkeit der angesprochenen Menschen auf die Gegenwart. Dass man das Kommen des Menschensohnes nicht in Kalender eintragen kann, entlastet von der ausschließlichen Sorge um das Ende und macht einen frei um neue Verantwortung zu übernehmen. Jesus preist jenen Verwalter selig, der täglich Gerechtigkeit übt, indem er sich nicht einem ausgelassenen Leben hingibt, sondern für die ihm Anvertrauten sorgt und für deren Unterhalt aufkommt.

 

Mit einer solchen Haltung ist das nahende, aber ungewisse Ende weder verdrängt noch vergessen. Es bleibt präsent, dass Gott das letzte Wort erst sprechen wird. Ohne das Wissen um die noch ausstehende Erlösungstat Gottes liefe das eigene Leben Gefahr, die Dimension der Redlichkeit zu verlieren und von Selbstsucht korrumpiert zu werden. Umgekehrt führte die Verengung des Blicks auf unwägbare Zukunft bloß zu endzeitlichen Spekulationen. Erst das Wissen um das Kommen des Menschensohnes und zugleich das Nichtwissen um dessen genauen Zeitpunkt machen den Menschen offen dafür, sich mit Geduld und ohne fanatische Engführung der Gegenwart zu stellen.

 

Die Kunst gläubigen Wartens, in die Jesus mit seinen drei kurzen Gleichnissen einführen möchte, mündet in die Aufforderung: „Haltet auch ihr euch bereit!“ Solche Bereitschaft, auf den Menschensohn zu warten, wird konkret im Zugehen auf Menschen, in der Offenheit für Begegnungen und im Dasein für andere. Spuren des Menschensohnes zeichnen sich schon in den Freuden und Nöten derer ab, denen man täglich begegnet. Man wartet nicht vergebens auf ihn, wenn man Kranke pflegt, Flüchtlingen Asyl gewährt, Kindern Zeit schenkt oder Arbeitslosen eine Stelle vermittelt, aber auch nicht, wenn man eine Einladung ausspricht, ein Fest mitfeiert, sich politisch engagiert oder einen kirchlichen Dienst übernimmt.

 

Das alles fällt nicht leicht. Denn es ist nicht nur schwer, auf Briefe von geliebten Menschen zu warten, sondern es ist auch schwer, auf den Menschensohn zu warten. Aber ohne solches Warten wäre die Welt noch weniger erlöst, als sie es heute ist.