Erfüllte Zeit

15. 08. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Der Besuch Marias bei Elisabet – Gedanken zum Magnifikat“

(Lukas 1, 39 – 56)
von Andrea Lehner-Hartmann

 

 

Magnificat anima mea Dominum, beginnt das Loblied der Maria auf Lateinisch. Meine Seele preist den Herrn. Daher also der Name: Magnifikat. Das Magnifikat ist für mich einer der aussagekräftigsten christlichen Texte. Als solcher ist er auch ziemlich herausfordernd, weil er gewohnte Bilder und Ordnungen nicht nur anfrägt, sondern auch auf den Kopf stellt. Das Magnifikat liest sich für mich wie ein Antitext zu dem über Jahrhunderte gepflegten Madonnenbild, wo Maria als die demütige, reine Magd vorgestellt wird. Stehen doch diese Bilder von Maria, die einem in Kirchen und Museen sehr häufig begegnen, und eine große Vorbildwirkung vor allem für Frauen hatten, in krassem Widerspruch zu den biblischen Aussagen, die Maria im Magnifikat tätigt. Das Magnifikat, so wie ich es verstehe, zeichnet ein Bild von Maria, das gerade nicht an Demut und Unterwürfigkeit orientiert ist, sondern eine Auflehnung gegen Ungerechtigkeiten darstellt.

 

Wenn hier gesagt wird, dass Gott auf die Niedrigkeit seiner Magd schaut, dann nicht deswegen, um Unterwürfigkeit und Demut zu verstärken, sondern um die Erfahrung des erniedrigt Seins aufzulösen. Die Erniedrigung von Gottes Magd wird hier durch Gott beendet. Diese Erfahrung, dass Gott es ist, der Großes an ihr getan hat, ermächtigt Maria, die herrschenden ungerechten Verhältnisse in Frage zu stellen und Gott als einen vorzustellen, der – wie es im Text heißt - zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht, die Hungernden mit seinen Gaben beschenkt und die Reichen leer ausgehen lässt. Solche Worte lassen sich nicht demütig und unterwürfig formulieren. Denn ein demütiges und unterwürfiges Verhalten würde voraussetzen, dass es jemanden gibt, der Unterwürfigkeit verlangt und sie notfalls auch einfordern kann: Das waren und sind quer durch die Geschichte hindurch Männer gegenüber Frauen, Reiche gegenüber Armen und Entrechteten, Herrscher gegenüber Untertanen, Gott gegenüber den Menschen.

 

Maria stellt hier die gewohnte Ordnung auf den Kopf, wenn sie den Gott Israels als einen vorstellt, der den Armen und Geringgeschätzten auf Kosten der Reichen und Mächtigen hilft. Die Mächtigen werden vom Thron gestürzt und die Reichen gehen leer aus; d.h. Gerechtigkeit lässt sich in einer ungerechten Ordnung nicht herstellen. Dazu bedarf es einer neuen Ordnung im Zusammenleben. Diese neue Ordnung repräsentiert Gott selbst. Wenn es heißt, auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut, dann bedeutet dies nicht, dass Maria sich zuerst klein machen muss und dies zur Bedingung wird, dass Gott Großes an ihr tut. Vielmehr spiegelt sich in der Rede von der Niedrigkeit seiner Magd die demütigende Erfahrung einer unverheirateten schwangeren Frau wider, was zur Zeit Marias gesellschaftliche Ausgrenzung bedeutete. Weil Gott – das wäre für mich die zentrale Botschaft des Magnifikats – Ungerechtigkeiten nicht unwidersprochen stehen lässt, wird die Erfahrung Marias als Erniedrigte und Ausgeschlossene von Gott in Erwählung verwandelt: Und dies bedingungslos, mit der Konsequenz, dass herkömmliche Ordnungen außer Kraft gesetzt werden und  nicht nur für Maria allein, sondern für alle, die erniedrigt sind und ausgebeutet werden.