Erfüllte Zeit

29. 08. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Mahnung zur Bescheidenheit“ (Lukas 14, 7 – 14)

von Erich Lehner, Theologe und Psychoanalytiker

 

 

Der Satz „Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ gilt als die wichtigste Belegstelle einer an Bescheidenheit und Demut orientierten Spiritualität. Doch angesichts einer Studie der IBM, wonach Erfolg aus 10% eigener Leistung, 30% Selbstvermarktung und 60% guter Kontakte resultiert, scheint er beinahe naiv. Selbst karitative Organisationen haben mittlerweile erkannt, dass es nicht reicht, allein Gutes zu tun. „Tu Gutes und rede darüber“, heißt es mittlerweile auch dort. Es besteht offensichtlich eine Notwendigkeit, sich und seine Leistungen in Szene zu setzen und bekannt zu machen.

 

In der Evangeliumsstelle spricht Jesus zu Pharisäern und Schriftgelehrten. Sie waren die gesellschaftlichen Eliten jener Zeit - und Männer. Unter Männern war und ist die Betonung von gesellschaftlicher Hierarchie und Rolle, von öffentlichem Status und Prestige immer schon ein Merkmal der Kommunikation. Dem begegnet Jesus mit einer einfachen Tischregel: Nimm nicht jenen Platz ein, den du deinem gesellschaftlichen Rang entsprechend als angemessen ansiehst, sondern nimm den untersten Platz ein. Der Gastgeber könnte sich über die gesellschaftlichen Regeln hinwegsetzen; er könnte der Persönlichkeit eines Freundes größeren Wert beimessen als seiner gesellschaftlichen Rangordnung und ihm den Ehrenplatz zuweisen. Angesprochen ist hier die bleibende Spannung zwischen den Besonderheiten und Fähigkeiten einer Person, die sehr oft nicht mit ihrer gesellschaftlichen Stellung übereinstimmen. Der Vorzug wird jedoch der Person gegeben.

 

Das Thema wird im zweiten Teil der Evangeliumsstelle vertieft. „Wenn du ein Essen gibst, lade nicht deine Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten oder reiche Nachbarn ein, sonst laden auch sie dich ein, und damit ist dir alles vergolten.“ Wenn es sich hier um gesellschaftliche Eliten handelt, wird es in diesen Treffen nicht nur um gutes Essen und gegenseitige Einladungen gegangen sein. Eher war das beabsichtigt, was wir heute „networking“ nennen; und im „networking“ der damaligen Elite ist es wohl genauso wie heute um Kontaktpflege, Meinungsbildung und politische Entscheidungsfindung gegangen. Die Kehrseite von „networking“ ist jedoch „sozialer Ausschluss“. „Sozialer Ausschluss“ findet überall dort statt, wo gesellschaftlich dominante Gruppen unter sich bleiben und anderen schwächeren Gruppen dadurch den Zugang zu Entwicklungsprozessen verwehren. Die Aufforderung zum Essen Arme, Krüppel, Lahme und Blinde einzuladen, darf deshalb auch nicht als Initiative zu einer Armenausspeisung missverstanden werden. Es geht vielmehr darum, den „sozialen Ausschluss“ aufzubrechen. Entscheidungsträger sollen mit ausgeschlossenen Gruppen in Kontakt treten. Sie sollen deren konkrete Bedürfnisse und Lebensumstände in politischen Entscheidungsprozessen angemessen aufnehmen und bearbeiten.

 

Aus diesen Überlegungen heraus ergibt sich für mich auch ein anderer Zugang auf das alte christliche Ideal der Bescheidenheit und Demut. Dieses Ideal könnte als Haltung der „Multiperspektivität“ beschrieben werden, also die Eigenschaft mehrere Blickwinkel zu umfassen. Es bezeichnet dann die Fähigkeit einer Person oder einer Gruppe, in das eigene Denken und Handeln die Perspektiven anderer Menschen und menschlicher Gruppierungen einzubeziehen. Ein Anstoß, den ich gerne aus dieser Bibelstelle mitnehme.