Erfüllte Zeit

12. 09. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Gleichnisse vom verlorenen Schaft, der verlorenen Drachme und dem verlorenen Sohn

(Lukas 15, 1 – 32)
von Pater Gustav Schörghofer

           

 

Die Schlüssel einer Freundin sind regelmäßig unauffindbar, vom Erdboden oder was immer verschluckt. Kaum ist das Auto zu öffnen oder die Haustür zu versperren, sind sie verschwunden, in den Tiefen der Handtasche oder in einem Winkel der Wohnung verschollen. Dann setzt ein heftiges Suchen ein, mit immer dem gleichen Erfolg: Das schon verloren Geglaubte taucht doch wieder auf.

 

Aber Gott? Kann der etwas verlieren? Anscheinend doch. Wohl nicht Geld oder Schlüssel, auch kein Schaf, aber Menschen können ihm verloren gehen. Davon ist in der Bibel immer wieder die Rede. „Wo bist du?“ ruft Gott auf der Suche nach den ersten Menschen. Sie müssen ihm abhanden gekommen sein, dass er sich auf die Suche nach ihnen macht.

 

Mein Freund Julian Schutting schreibt mir zu Sonntagsevangelien kurze Texte, ein Zuruf, auf den ich dann antworte. Verlieren und Finden sei ein Wesenszug menschlichen Lebens, meint er zum heutigen Evangelium. Und weiter schreibt er: „Demnach ist es uns Irdischen unserer Natur gemäß nicht gegeben, scheinbar unbedrohtes Wohlergehen gebührend zu bedanken, zu großer Freude einzig über verloren Geglaubtes und Wiedergefundenes begabt. Und so bedürfen wir, um uns dann und wann als glücklich wahrzunehmen, letztlich des uns drohenden Todes – nur die Überirdischen begabt, ihre ewige Jugend zu genießen!

 

Etwas schlichter gesagt: Mehr als an dem, was wir als uns gesichert erleben, erfreuen wir uns an uns abhanden gekommen oder uns genommen gewesen uns wiedergegebenem – ach du Unzulänglichkeit der menschlichen
Seele!“

 

So schreibt Julian Schutting. Aber ist es so? Müssen mir die Dinge abhanden kommen, dass ich ihren Wert entdecke? Kann ich mich erst dann von Herzen freuen, wenn ich das schon verloren Geglaubte durch glückliche Wendung wieder finde? Da ist schon was dran. Ein Mensch, ein Tier, ein Gegenstand, die mir tagtäglich begegnen, selbstverständlich da sind, sie werden zur Gewohnheit. Ich merke sie gar nicht mehr, nehme das Besondere ihrer Gegenwart gar nicht mehr wahr. Erst der Verlust macht mir klar, was ich in ihnen gehabt habe. Nun wüsste ich es. Aber nun ist es zu spät. Ich suche und suche, doch sie sind weg. Zum Glück nicht immer unwiederbringlich. Heftiges Suchen, Sehnsucht und oft auch Zufall lassen das Verlorene wieder auftauchen. Da ist es wieder, die Freude ist groß. Es nimmt seinen alten Platz ein und das Spiel wiederholt sich vielleicht. Bis es eines Tages kein Wiedersehen mehr gibt.

 

Aber könnte das alles nicht auch ganz anders sein? Wie wäre es, wenn ich Menschen, Tiere, Dinge nicht als festen Besitz sehe, etwas, das selbstverständlich da ist und zu mir gehört? Ich könnte all das auch als etwas betrachten, das nur vorübergehend bei mir ist, von dem ich mich eines Tages wieder verabschieden muss. Oder ich könnte es so anschauen, als wäre es mir fremd, gar nicht selbstverständlich und bekannt, als etwas, das ich Tag für Tag neu entdecken muss. Und als etwas, das sich von mir Tag für Tag neu finden, neu entdecken lässt. Das muss doch einen Unterschied machen, denke ich mir, wenn die Welt nicht einfach selbstverständlich da ist, verlässlich gleich und immer verfügbar. Und wenn ich mir klar werde, dass ich mich immer wieder auf die Suche nach der Welt machen muss, dass ich sie gar nicht anders erreiche als durch fortwährendes Suchen. Das macht doch einen Unterschied, wenn ich die Welt immer neu entdecke und wenn ich erfahre, dass mir Menschen, Tiere, Dinge immer neu geschenkt werden. Ja, geschenkt werden. Denn oft besteht kein logischer Zusammenhang zwischen Suche und Finden. Es scheint, als würden sich die Dinge suchen lassen, um sich dann gnädig zu erkennen zu geben. Schon die Schlüssel meiner Freundin machen das immer wieder vor.

 

Und so würde ich in einer Welt leben, wo mir nichts sicher ist. Wo sich mir alles immer wieder entzieht und sich von mir finden lässt. Immer wieder neu, wenn ich mich immer wieder auf die Suche mache nach dem Abwesenden. So begegnet mir in der Kunst die Welt immer wieder neu, wunderbar verwandelt vom Verlorenen ins Wiedergefundene. In der Musik begegnet mir das Gehörte immer wieder neu, als wäre es noch nie gehört worden. In der Dichtung lässt sich Sprache immer wieder neu entdecken, als würden die Worte eben erst jetzt die Augen öffnen. Nicht notwendig muss uns etwas entrissen werden, damit wir seine Kostbarkeit, das Glück seiner Gegenwart entdecken. Es genügt das Wissen, dass nichts ganz bei uns, dass es immer auch abwesend, immer auch in der Fremde ist. Es genügt die Sehnsucht nach dem Abwesenden, die Suche nach dem immer Fremden. Sie sind das Tor zur großen Freude, zum Glück immer neuen Findens. Der Mensch sucht Gott. Gott sucht den Menschen.