Erfüllte Zeit

03. 10. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken“

(Römer 14, 17 – 19)

von Superintendentin Luise Müller

 

 

Ich weiß es schon lange: Die gute alte Zeit, als alles noch so viel besser als jetzt war, die hat es nie gegeben. Nicht einmal im Christentum und auch nicht zur Zeit der ersten christlichen Gemeinden. Wenn ich noch einen Beweis dafür gebraucht hätte, hätte ich ihn mit diesem Abschnitt aus dem Römerbrief bekommen.

 

Paulus schreibt, wahrscheinlich während seines Aufenthalts in Korinth, einer ihm nicht persönlich bekannten Gemeinde, die sich in Rom zusammengefunden hat. Er will Rechenschaft ablegen über das, was er vertritt: Ein Evangelium, frei von gesetzlichen Verengungen, eine Lehre, die den Menschen aus seiner Heillosigkeit  zum Heilvollen führen kann. Grundsätzliche Erwägungen heruntergebrochen auf aktuelle Situationen, die ihm aus Rom berichtet werden.

 

In den wenigen Versen, die in evangelischen Kirchen für die heutige Predigt vorgesehen sind, liegt das Ende einer Argumentationskette vor. Vorausgegangen waren Gedanken zur Frage nach der Freiheit, bzw. der Gebundenheit des einzelnen Glaubenden. Paulus entwickelt seinen Gedankengang an der Frage des Essens: Darf ein Christ sogenannte unreine Speisen zu sich nehmen oder nicht? Konkret ging es damals in Rom wohl um Fleisch und Wein, die im Zusammenhang mit fremden religiösen Kulten auf dem Markt waren. Darf ein Christ, eine Christin die essen? Oder muss ich bestimmte Vorschriften einhalten, um ein christliches Leben zu führen? Am Freitag fasten, grundsätzlich vegetarisch leben, keinen Alkohol trinken? Was ist jetzt mit der Freiheit, zu der wir nach Paulus durch Christus befreit sind? Gilt die, oder gilt die nicht?

 

Ich sehe sie vor mir, die Kämpferinnen und Kämpfer, die sie sich nicht wieder nehmen lassen wollen, ihre Freiheit von all den einengenden Vorschriften, die sie vielleicht gerade erst überwunden haben. Es war ein großes Erlebnis gewesen, zu erkennen und zu begreifen, dass ich mir das Heil nicht erarbeiten kann, nicht durch noch so verlässliche Einhaltung aller Regeln, nicht durchs Abarbeiten noch so vieler Vorschriften. Nein – so nicht. Sondern: Gott macht mich heil und ganz. Und das ist ein großes Geschenk! Unverdient, wie alle Geschenke, aber unwahrscheinlich lebensbereichernd. Ich sehe, wie Menschen bei so einer Zusage aufatmen, den Reichtum des Lebens entdecken, Freude akzeptieren und Genuss zulassen, und alle Ansprüche, auch wenn sie sich noch so religiös gebärden, zurückweisen. Nein, nicht noch einmal mit mir! Nicht noch einmal das Korsett aus Vorschriften und Verboten und unterschwelligem Zwang. Christus hat mich befreit. Dafür gehe ich auf die Barrikaden!

 

Kann es sein, dass diese Freiheit, kaum dass sie gewonnen war, schon wieder in Gefahr ist, weil es Christinnen und Christen gibt, die zögerten, da mitzumachen? Das geht zu weit, sagten sie. So eine freie Lebensform stellt unser Christsein in Frage. Was nun?

 

Die Frage ist keineswegs überholt. Gibt es Ansprüche an mich als evangelische Seelsorgerin, an uns als christliche Gemeinde, denen wir genügen müssen? Gibt es auch heute umstrittene Lebensführungen unter Christinnen und Christen? Da muss ich nicht lange nachdenken. Bleiben wir gleich beim Essen: Gerade junge Leute, die ihr Christsein sehr ernst nehmen, sprechen sich für mehr vegetarisches Essen aus. Die Gründe sind nicht mehr Reinheit, bzw. Unreinheit, sondern z.B. die Klimabilanz. Als im Juli die Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Stuttgart tagte, forderten die Jugenddelegierten aus aller Welt eine Reduzierung des Fleischverbrauchs. Ein vegetarischer Mittwoch wurde als Empfehlung vorgeschlagen, und ich wurde im Laufe der Diskussion ganz beschämt von meiner eigenen Gedankenlosigkeit in diesen Fragen. Mit Hochachtung habe ich die jugendliche Rigorosität wahrgenommen, die Konsequenz und die persönlichen Einschränkungen, die diese jungen Leute auf sich nehmen wollten. Ein großes Gelächter gab es allerdings im Plenum, als der junge Mann, der so vehement die Forderung nach einem vegetarischen Mittwoch gestellt hatte, und damit das Überleben der Menschheit garantieren wollte, einen vegetarischen Freitag, den alten Fasttag der Christenheit ablehnte, mit der Begründung, das sei jungen Leuten nicht zuzumuten, weil sie ja am Freitag in aller Regel ausgehen und feiern wollen.

 

Paulus richtet den Römerinnen und Römern aus: Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist. Oder, wie es in einer anderen Übersetzung heißt: Nicht Essen und Trinken machen Gottes Welt aus, sondern Gerechtigkeit, Frieden und Freude – bewirkt durch die heilige Geistkraft.

 

Wenn ich ihn richtig verstehe, den Paulus, dann sagt er: Diskutiert nicht länger über Essen und Trinken, oder ähnliche Dinge, sondern akzeptiert, dass ihr alle – ob Vegetarier oder Fleischesser, ob Antialkoholikerin oder eine, die gerne ein Glas Wein trinkt – dass ihr alle mit euren ganzen Unterschieden Raum habt in Gottes Welt. Einer Welt, in der euch Gerechtigkeit, Frieden und Freude geschenkt worden ist.

 

Weder die einen noch die anderen müssen das Reich Gottes inszenieren, es ist weder durch rigorosen Verzicht noch durch exzessive Freiheit machbar. Weder politische Korrektheit noch arrangierte Anstößigkeit führen es herbei. Wenn es denn da ist, und sich in Gerechtigkeit, Frieden und Freude äußert, dann ist es, folgt man Paulus, eine Gabe des Heiligen Geistes.

 

Was bleibt, ist eine Zumutung für die einen und die anderen. Die sogenannten Starken sollen schon mal auf ihre Rechte verzichten, und die sogenannten Schwachen sollen sich gut überlegen, ob da wirklich ihr Gewissen spricht!

 

Ich gebe zu, dass mich zunächst das am meisten geärgert hat. Die Tyrannei der Schwachen. Als ältestes Kind habe ich nur zu oft hören müssen: „Die Klügere gibt nach“. Und ich kann mich noch gut an das Grinsen meiner kleinen Schwester erinnern, wenn sie es mal wieder geschafft hatte, als scheinbar Schwächere ihren Willen durchzusetzen. Paulus so zu interpretieren, wäre ein Missverständnis. Es kann unter Christen nicht darum gehen, dass die einen die anderen dominieren. Durch die paulinischen Gedankengänge werde ich langsam aber sicher dorthin geführt, wo ich erkenne: Es gibt kein uniformiertes Einheitschristentum. Es gibt im Gegenteil so viele Christentümer, wie es Christen gibt. Nicht nur die unterschiedlichen Menschen auch die unterschiedlichen Konfessionen erinnern daran. Mir gefällt die Formulierung von der versöhnten Verschiedenheit. Versöhnt – nicht durch Menschen sondern durch Gottes Geist. Verschieden, das heißt bunt und interessant und manchmal so fremd.

 

Ob wir es akzeptieren können, so miteinander zu leben? Aus unseren Unterschieden keinen Konflikt zu entwickeln sondern aus der Unruhe heraus das Potential zu entdecken, den Spielraum zu einem größeren Ganzen, das Reich Gottes.