Erfüllte Zeit

24. 10. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Wer sich selbst erniedrigt… - Das Beispiel vom Pharisäer und vom Zöllner“ (Lukas 18, 9 – 14)
von Helga Kohler-Spiegel

 

 

Das Gleichnis gibt sich selbst die Überschrift: „Einige, die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachteten“ – diesen Menschen ist die Beispielerzählung gewidmet. Jesus erzählt, wenn ihm etwas wichtig ist, gerade im Lukasevangelium - immer wieder: Auf die Frage, wer mein Nächster ist, erzählt Jesus die Geschichte von einem, der unter die Räuber fiel (Lk 10, 25ff), als Jesus vorgeworfen wird, dass er sich mit Sündern abgibt und sogar noch mit ihnen isst (Lk 15, 1ff), erzählt er das Gleichnis vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme und vom „verlorenen Sohn“ (Lk 15, 11ff).

 

Auch hier erzählt Jesus, und der Schluss klingt nach, wenn wir dieses Evangelium hören: „Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht.“ Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, für mich tönt der Satz bis heute hoch moralisch, vor allem von Mädchen wurde lange Zeit verlangt, bescheiden zu sein, sich klein zu machen – um „erhöht“ zu werden. Im jungen Erwachsenenalter haben wir dagegen rebelliert, und bis heute scheint mir klar, dass es in dieser Beispielerzählung Jesu nicht um den Stolz auf eigene Leistung, um Freude am eigenen Können geht. Aber – worum geht es dann?

 

Aus der Basis heutiger Psychologie wissen wir, dass die Reaktion, d.h. die Gegenübertragung auf Hochmut und Selbstgerechtigkeit meist Abwehr ist. In der Sprache der Transaktionsanalyse würden wir die Haltung des Pharisäers beschreiben mit: „Ich bin o.k. – du bist nicht o.k.“, der Sünder steht für das gegenteilige Muster: „Ich bin nicht o.k. – du bist o.k.“ Beides ist schwierig – zur Zeit Jesu wie auch heute, in privaten wie in beruflichen Beziehungen. Sie kennen das wohl auch, wie mühsam diese Beziehungsmuster sind. Der heutige Text zielt aber nicht auf diese Beziehungsebene, hier steht im Mittelpunkt, was die Selbstgerechtigkeit mit dem Selbstgerechten, was der Hochmut mit dem Hochmütigen selbst macht.

 

Nicht zufällig zählt der Hochmut, die Überheblichkeit zu den „Todsünden“. Das Wort scheint wie aus einem anderen Jahrhundert. Und doch sagt der alte Begriff, dass diese Haltungen Leben im Kern bedrohen, dass Hochmut und Selbstgerechtigkeit die Beziehungen und das Glück tatsächlich zerstören können. Das ist wohl gemeint, wenn von „Tod-Sünden“ die Rede ist: Verhaltensweisen, die Leben zerstören können.

 

Nun aber, inwiefern kann Selbstgerechtigkeit Leben zerstören? Die Gleichniserzählung Jesu redet Klartext: In der Haltung, immer schon richtig/gerecht zu sein, ist mein Blick nur auf mich selbst gerichtet. Ich sehe nur mich. Die anderen Menschen habe ich längst aus dem Blick verloren. Diese Haltung des Pharisäers verschließt den Blick auf die anderen Menschen und die Beziehung zu ihnen. So „satt“ vorne stehend, kann der Pharisäer nicht mehr sehen, wer ganz hinten steht. Diese Erfahrung kennen wir: Wenn ich ganz im Zentrum bin, merke ich (manchmal) gar nicht, dass Menschen an der Peripherie sind, ich sehe sie nicht mehr, meist verliere ich das Empfinden, wie das Leben am Rande ist. Der Pharisäer weiß sich im Zentrum – und das ist sein „Vergehen“. Denn mit diesem Blick sieht er den anderen Menschen, den ganz hinten, nicht mehr. Mir begegnet dies in Systemen, die sich im Zentrum wissen und vergessen, wie es denen am Rande geht, dies gilt für Firmen, für staatliche Institutionen, auch für die Kirche. Die im Mittelpunkt sind, die Macht haben, die Mehrheit, die Starken… - so schnell kann vergessen gehen, dass ganz hinten auch noch Menschen stehen…

 

Und: Der Bibeltext nimmt dafür nicht zufällig die Begriffe „erhöhen“ und „erniedrigen“. Der Hymnus im Philipperbrief im 2. Kapitel beschreibt den Weg Jesu mit diesen Begriffen: „Er war wie Gott, aber er hielt nicht daran fest… Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod… Darum hat Gott ihn erhöht…“ Der Kontext ist eindrücklich: Die römische Herrschaftsideologie betonte den Aufstieg und die Macht des Kaisers, Jesus aber war von Beginn an „in Gestalt Gottes“, wie es wörtlich heißt, er musste nicht erst vergöttlicht werden. Er ist bereits erhöht – und er erniedrigt sich selbst und stellt damit die Ordnung der Welt auf den Kopf. Nicht zufällig beginnt die Geschichte Jesu „erniedrigt“, im Stall. Gott wird hineingeboren in diese Welt – am Rande der damaligen Welt, in einem völlig unwichtigen Dorf. Und Maria singt im „Magnifikat“ von der Umkehrung der Welt: „Meine Seele preist die Größe Gottes… Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen (Lk 1,48ff)“. „Erniedrigung“ ist kein spiritueller Begriff, sondern ein Wort aus der Welt der Gewalt, Versklavung, Vergewaltigung, Entwürdigung – das ist auf der Basis des Alten Testaments mit „Erniedrigung“ gemeint. Am Kreuz wieder – in der grausamsten Todesart, die die Antike kennt, im tiefsten Leid soll Gott sichtbar sein. Es bleibt eine Zumutung: Indem Gott in Jesus hineingeboren wurde in diese Welt, ist nichts mehr auf dieser Welt gottfern.

 

Zurück zur Beispielerzählung Jesu: Wer sich selbst erhöht, ist wie die Herrscher im antiken Rom. Der Mensch gerät aus dem Blick, weil es nur noch um die eigene Person und den Machterhalt geht. Wer sich selbst erniedrigt, ist wie Jesus - dann sieht er den Zöllner Zachäus auf dem Baum und lädt ihn ein an den Tisch. Dann sieht er oder sie die gekrümmte Frau und richtet sie auf, dann sieht er die Kinder und nimmt sie in die Mitte… Wer sich selbst erhöht, zementiert Macht und Gewalt wie im antiken Rom – und wohl bis heute. Wer sich selbst erniedrigt, handelt und lebt wie Jesus: Er/Sie sieht die Menschen, auch und gerade die am Rande. Und wer lebt wie Jesus – wird wie Jesus „erhöht“, wird bei Gott sein – über den Tod hinaus.