Erfüllte Zeit

31. 10. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Jesus im Haus des Zöllners Zachäus“ (Lukas 19, 1 – 10)
von Pater Karl Schauer

 

 

„Wo war Gott?“, hieß die großflächige Bildzeitungsüberschrift zwei Tage nach dem Tsunami im Dezember 2004. Dies ist die alte und immer wieder neue Frage, nahezu stündlich, wenn durch unkontrollierbares Leid die Welt, unsere Welt zerbricht. Ob es Gott gibt, und wenn es ihn gibt, ob er dann für mein Leben eine Bedeutung hat, und ob ich ihn überhaupt begegnen kann, diese Grundfrage des Menschen bleibt, und lässt sich so leicht nicht beantworten.

 

Diesem Zöllner Zachäus, klein von Gestalt, ohne großen Lebenshorizont, ohne atemberaubende Zukunftsentwürfe, was sein Leben betrifft, in sich und seinem nicht besonders ehrenwerten Tun gefangen, hat es anscheinend geschafft. Ihm ist es anscheinend gelungen, in einem nicht vorbereiteten und geplanten Augenblick seines Lebens diesem Gott irgendwie zu begegnen. Ein Glücksfall sozusagen, Gott kommt ihm in die Quere.

 

Kann ich als kleiner Mensch diesem großen Gott gegenüberstehen? Halte ich diese mögliche Begegnung überhaupt aus? Ist Begegnung, wie ich sie mir in meinen menschlichen Denkkategorien vorstelle, überhaupt möglich? Und letztlich, was bringt´s?

 

Gerade dann, wenn ich ihn in meinem Leben, in meiner Nähe gebraucht hätte, war er nicht da – so klingt die uralte und immer aktuelle Theodizeefrage. Oder der Glaube an Gott sei nur eine phantastische Konstruktion des Menschen, wie es die gesamte Religionskritik des 19. und des ausgehenden 20. Jahrhunderts sieht. Oder Gott ist mir letztlich überhaupt egal, ich mache mir mein Leben selbst, individuell und eigenständig, ich brauche ihn nicht dabei. Und der anonyme Atheist von heute würde vielleicht sagen, diese Frage nach Gott stellt sich für ihn gar nicht, ich genüge mir selbst, ich muss mich verwirklichen und entfalten, ich bin für mein Leben und für das Gelingen und Misslingen dieses Lebensentwurfes allein mehr oder weniger verantwortlich. Und überhaupt: Wozu eigentlich mit Gott rechnen, mein Leben ist Fun und Unterhaltung, und sollte es keinen Spaß mehr machen, dann hat das alles auch keinen Sinn mehr.

 

Sie als Zuhörer haben das Recht, mich als Priester und Mönch zu fragen, ob ich diesem Gott in meinem Leben schon oft begegnet bin?

 

Eine Antwort auf diese Frage fällt mir nicht leicht, sie könnte zu schnell in das Banale abrutschen. Vielleicht müsste ich es umgekehrt sagen: Ich hoffe, dass er, dieser unaussprechliche und viel größere und doch so menschliche und greifbare Gott schon oft in mein Leben gekommen ist, dass er mir in die Quere gekommen ist. Vielleicht habe ich ihn nicht erkannt, nicht gewollt, vielleicht ihn verdrängt oder mich davon geschwindelt, aber er war da, nicht aufdringlich, sondern behutsam, so, wie Gott meist mit dem Menschen umgeht.

 

Wenn Gott sich dem Menschen zeigt, oder wie es die Heilige Schrift sagt, sich dem Menschen offenbart, dann tut er es nicht mit äußerem Zwang, sondern verhüllt, verborgen, um die Freiheit und Liebe auf Seiten des Menschen nicht zu ersticken. Liebe und Zwang sind unvereinbar. Ein unverhüllt sich offenbarender Gott würde den Menschen zur Anerkennung Gottes zwingen. Göttliche Offenbarung, Begegnung Gottes mit den Menschen ist aber eine Selbstmitteilung der Freiheit an die Freiheit. Wenn Gott dem Menschen begegnet, dann nimmt er sich zurück, er trägt die Züge des Menschen, er wird einer von uns in menschlicher Knechtsgestalt. Er, dieser Gott,  ist nicht der Abgehobene, der Unbegreifliche und Absolute, sondern der Gott auf meiner Augenhöhe. Mir, diesem Menschen in meiner Unvollendetheit, mit meinen Grenzen und Charakterzügen, mit meiner Sündhaftigkeit, kommt er entgegen.

 

„Wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt, lasse ich mich von euch finden“, diese Lebenserfahrung macht der Prophet, wenn es um Gott geht. Deshalb kann es nicht heißen: Ich öffne mich dir, ich suche dich Gott, weil du meinem Leben einen Sinn gibst, weil du mich von meinen Schwächen und Grenzen heilst, weil du mich aus dem Leid befreist und mich aus meinem Elend herausholst. So würde ich ihn verfehlen. Er wäre für mich ein bloßes Mittel.

 

Diese Erfahrung hat auch der kleine Zachäus gemacht. Er möchte Jesus sehen, aber von oben herab, aus der sicheren Entfernung eines Unbeteiligten und Nicht-Betroffenen. Jesus sucht die Begegnung auf gleicher Höhe und zeigt Zachäus damit, Gott will beim Ausgestoßenen einkehren, er will Gast sein im Haus seines Lebens. Das ist für Zachäus eine umwerfend neue Lebenserfahrung, ein Neubeginn trotz aller Festgefahrenheit in seinem Leben. Diese Begegnung lässt trotz aller Kleinkariertheit seine eigentliche Größe und Würde erkennen. Weil Zachäus bedingungslos angenommen ist, kann er sich selbst annehmen, über sich hinauswachsen und den Blick weiten für den größeren Lebenshorizont um ihn herum.

 

Diese Liebe Gottes ist immer umsonst, weil sie verschwenderisch und nicht berechnend ist.

 

Heute, am 31. Oktober, feiern evangelische Kirchen  den Reformationstag: Wenn man so will, den Beginn der Reformation der Kirche im 16. Jahrhundert. Eine Phase der Kirchengeschichte, auf die die Gegenreformation folgte. Zu oft war unsere Geschichte, das Leben der christlichen Kirchen, besonders auch die Beziehung zwischen katholischer und evangelischen Kirchen von Ausgrenzung geprägt. Das ist eine leidvolle Erfahrung, die viele Wunden geschlagen hat. Ich glaube, das Zurückziehen auf seinen eigenen Aussichtsturm, das Verstecken in seiner eigenen Baumkrone bringt uns nicht weiter. Nur wer hinuntersteigt, Gottes Handeln zulässt, diesem Gott viel zutraut, ist zur wirklichen Begegnung fähig. Gott ist Begegnung. Diese wird nur möglich, wenn ich mich dieser Liebe stelle.