Erfüllte Zeit

07. 11. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Keiner von uns lebt sich selber“ (Römer 14, 7 – 9)
von Ulrich Körtner

 

 

Diese Verse aus dem Römerbrief gehören zu den bekanntesten Bibelworten. Sie werden gern bei Beerdigungen zitiert oder wenn im Sonntagsgottesdienst die Namen der in der vergangenen Woche Verstorbenen verlesen werden. Oder eben auch, wie heute in den evangelischen Kirchen, als Predigttext für den drittletzten Sonntag des Kirchenjahres. Er soll  auf den Toten- oder Ewigkeitssonntag einstimmen und an unsere Endlichkeit, unseren Tod und das Ende aller Dinge erinnern.

 

Beim ersten Hören scheint die Botschaft klar und einfach: Aus den Worten des Apostels Paulus spricht ein unbedingtes Gottvertrauen. Unser Leben ist in Gottes Hand. Oder um mit den Worten eines bekannten Kirchenliedes zu sprechen, das der evangelische Pfarrer Arno Pötsch 1941 gedichtet hat:

 

„Du kannst nicht tiefer fallen / als nur in Gottes Hand, / die er zum Heil uns allen / barmherzig ausgespannt. // Es münden alle Pfade / durch Schicksal, Schuld und Tod / doch ein in Gottes Gnade / trotz aller unsrer Not. // Wir sind von Gott umgeben, auch hier in Raum und Zeit / und werden in ihm leben / und sein in Ewigkeit.“

 

Paulus geht es an der zitierten Stelle jedoch nicht nur um ein unerschütterliches Gottvertrauen oder Vertrauen auf Christus, den er mit dem Herrn meint. Mit dem Hinweis, dass Christus über Tote und Lebende herrscht, will er seine Adressaten zur Zurückhaltung in ihrem Urteil über andere Mitchristen mahnen.

 

Die evangelische Perikopenordnung, also die Ordnung der Lese- und Predigttexte, reißt die zitierten Verse leider aus dem Zusammenhang, ohne den sie nicht recht zu verstehen sind. Ungefähr im Jahr 60 nach Christus schreibt Paulus seinen Brief an die Gemeinde in Rom, die ihm persönlich noch unbekannt ist. Er äußert aber die Absicht, demnächst nach Rom zu kommen, um von dort aus seine Mission bis Spanien auszudehnen.

 

Wie er erfahren hat, gibt es in der jungen Christengemeinde am Tiber einen Konflikt zwischen sogenannten Starken und Schwachen im Glauben, der sich an der Frage entzündet, ob Christen besondere Speise- und Fastenvorschriften einhalten müssen. Paulus ermahnt seine Leserinnen und Leser, sich nicht gegenseitig zu verurteilen. Die einen wie die anderen sprechen über ihrer Mahlzeit das Tischgebet und sind im Glauben an Christus miteinander verbunden. Wer besondere Fastenregeln einhält, tut dies im Vertrauen auf Christus, wer dies nicht tut, versucht doch ebenso sein Leben auf Christus auszurichten. Jeder in seiner Haltung ist mit Christus verbunden, und das soll keine dem anderen absprechen.

 

Diesen Gedanken unterstreicht Paulus, indem er ihn in einen allgemeinen Zusammenhang stellt. Wenn durch Christi Tod und Auferstehung sogar der Gegensatz zwischen Leben und Tod relativiert wird, wie sehr dann erst die Unterschiede zwischen verschiedenen Auffassungen in Punkto Essen und Trinken. Darum setzt Paulus seinen Gedankengang nach den zitierten Versen fort: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.“

 

Der historische Streit zwischen den sogenannten Starken und Schwachen mag für uns heute nicht mehr von Bedeutung sein. Die Mahnung, einander nicht das Christsein abzusprechen, weil wir vielleicht unterschiedliche Formen der Frömmigkeit praktizieren oder verschiedenen Konfessionen angehören, hat jedoch an Aktualität nichts verloren.

 

Keiner, so Paulus, lebt sich selber und keiner stirbt sich selber. Für heutige Ohren klingt das provokant. Wird nicht Autonomie in unserer Zeit großgeschrieben? Selbstbestimmung bis ans Lebensende, lautet doch die Devise. Für wen ich lebe: Für mich selbst, natürlich!, werden viele Menschen heute antworten. Was Paulus schreibt, klingt dagegen nach Fremdbestimmung und Bevormundung. Fördern seine Worte nicht auch eine fragwürdige Mentalität, sich nur für andere aufzuopfern und sich von anderen ausnutzen und verheizen zu lassen?

 

Tatsächlich kann die Forderung nach Lebenshingabe im Christentum so verstanden werden: Als Versuch, Menschen klein zu machen und ihnen jede Ichstärke zu nehmen. Es gibt fragwürdige Formen der Selbstlosigkeit, die aber bei genauerer Betrachtung bei Paulus keine Rechtfertigung finden.

 

Nur in Beziehung zu anderen, nur in der Gemeinschaft mit anderen kann ich ein Selbst sein. Meine Selbstbestimmung wird immer mit durch die Beziehungen bestimmt, in denen ich lebe. Und eben das ist die Frage, vor der Menschen stehen: Von woher wollen sie sich – in ihrer Selbstbestimmtheit! – bestimmen lassen? Wer mit und für Christus lebt, davon bin ich überzeugt, findet gerade dadurch zu seinem wahren Selbst, dass er aus seiner narzisstischen Selbstbezogenheit befreit wird.