Erfüllte Zeit

21. 11. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Kreuzigung“ (Lukas 23, 35 – 43)
von Veronika Prüller-Jagenteufel

 

 

Was für eine Souveränität! Da liegt ein zu Tode Gefolterter in den letzten Zügen, wird verspottet und verhöhnt – und sagt einem Leidensgenossen zu, dass sie sich bald – heute noch, am selben Tag – im Paradies wiedersehen werden.

 

Mich beeindruckt und erschreckt das fast ein wenig. Wie geht das, mitten in schrecklichen Schmerzen, in eigener Todesangst so zugewandt zu sein, die Angst und Not des anderen zu sehen und mit Trost zu reagieren? Wie geht das?

 

Immer wieder gibt es solche Menschen, die mitten in Not und Gewalt menschlich bleiben und mit großer Klarheit und ohne Hass bewusst in einen gewaltsamen Tod gehen – wie etwa die Geschwister Hans und Sophie Scholl und andere, die der Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime ihr Leben gekostet hat. Im Gefängnis und noch auf dem Weg zur Hinrichtung, so erzählen die Zeitzeugen, waren sie freundlich zu Mitgefangenen und selbst zu Bewachern, waren viele beeindruckt, mit welcher souveränen Kraft sie trotz allem bis zuletzt gelebt haben.

 

Diese Menschen beeindrucken und erschrecken mich, denn wenn ich mich da hineindenke, kriecht mir die Angst unter die Haut und bleibt mir die bange Frage, ob ich wohl zu solcher Hingabe fähig wäre – oder nicht doch alles tun würde, um Schmerz und Machtlosigkeit zu vermeiden; und sei es, mich innerlich zu verschließen, um sie einfach nicht wahrzunehmen. Schließlich ist das doch auch in Alltagsituationen eine beliebte menschliche Strategie.

 

Doch offenbar gibt es das, dass die Angst hinter einem liegen kann, dass Ohnmacht angenommen werden kann, dass es den inneren Ort der Freiheit und Liebe gibt, aus dem auch Folterer manche Menschen nicht vertreiben können und aus dem heraus diese Menschen auch in extremen Situationen noch fähig sind, sich anderen liebevoll tröstend zuzuwenden.

 

Genau so erzählt der Evangelist Lukas den Tod Jesu, so hatten ihn die ersten Christinnen und Christen in Erinnerung behalten: Als eine Hingabe in letzter Souveränität – trotz und in aller Angst und allen Schmerzen. Vom beißenden Spott der Zuschauer und Akteure seiner Hinrichtung lässt sich Jesus nicht provozieren, sondern schweigt. Antwort bekommt allein der ebenfalls zum Kreuzestod verurteilte Verbrecher, der sich bittend und vertrauend an Jesus wendet.

 

„Denk an mich“, bittet er den, der neben ihm wie er sterbend am Kreuz hängt. „Denk an mich“, so bitten in der Bibel, z.B. in den Psalmen, immer wieder Menschen, wenn sie um Gottes Zuwendung und Segen beten. Mit seiner Bitte legt dieser Leidensgenosse Jesu ein starkes Glaubensbekenntnis ab.

 

Er steht damit in der Erzählung vom Sterben Jesu für den Glauben, so wie später in der Geschichte der Hauptmann und dann Josef von Arimathäa.

 

Ihnen gegenüber stehen die, die bei der Kreuzigung zuschauen und über den hilflos und ohnmächtig sterbenden Jesus spotten. Vornehme sind es, betont der Evangelist, und Soldaten. Nach allem, was man sich über diesen angeblichen Gottesmann erzählt hat, sind sie jetzt vielleicht enttäuscht und schadenfroh befriedigt zugleich. Jesu Ohnmacht, so sind sie gewiss, zeigt jedenfalls, dass er nicht der Messias sein kann. Denn Gott ist für sie ein mächtiger Herrscher.

 

Auch der eine Verbrecher ist voll von verzweifeltem Spott über den Wunderheiler, der ihm jetzt auch nicht mehr helfen kann. Sein Kollege, in derselben Situation reagiert ganz anders. Warum? Was ist bei diesem einen anders? Ist es Schicksalsergebenheit, die sich nicht mehr auflehnt und dafür auf das Jenseits hofft?

 

Auch für die ersten Christinnen und Christen war das eine schwere Frage: Warum war der Messias nicht ein machtvoller Held, der die römische Besatzungsmacht besiegt und Israel als Königreich wiederherstellt? Dass das Reich Gottes von anderer Art ist, dass es in ganz anderen Dimensionen liegt, haben sie erst nach und nach verstanden.

 

Auch ich verstehe es nur nach und nach und vielleicht nie ganz, dass Menschsein im Letzten auch heißt, ohnmächtig zu sein, und dass die tiefste Bewältigung von Leben und Sterben wohl in der vertrauensvollen Annahme dieser Ohnmacht liegt.

 

Daraus muss gar keine furchtbar leidvolle Angelegenheit werden, aber es bedeutet, dass ich in allem, was ich mit meinen Kräften und Fähigkeiten tun kann und darf und muss, immer auch angewiesen bleibe auf andere und immer vieles bleibt, das ich nicht oder nur wenig beeinflussen kann in meinem Leben. Und es bleibt in jedem Leben der Tod die absolute Grenze der menschlichen Macht. Den Gefühlen, die das auslöst, muss ich mich stellen – immer wieder. Genau hier bewährt sich dann Glaube als letztes Vertrauen auf Gottes Souveränität statt auf meine.

 

Es anzunehmen, wenn nichts mehr gemacht werden kann, und sich darin einzuüben – vielleicht ist das das Geheimnis derer, die in extremen Situationen souverän Menschen bleiben. Wie sie hoffe ich in jeder Lebenslage nicht von Verzweiflung, Zynismus oder Hass ganz überschwemmt zu werden, sondern den inneren Raum der Freiheit und der Liebe offen halten zu können, auch wenn es einmal eng wird.

 

Wo es das heute schon manchmal ist – angesichts einer oft schrecklichen Welt, am Sterbebett eines lieben Menschen, in den Enttäuschungen des Alltags – möchte auch ich lernen zu beten: Denk an mich, Jesus. Ich bin davon überzeugt, dass es seine Souveränität der Hingabe ist, die diese Welt aus den Angeln hebt und das Tor zum Paradies öffnet.