Erfüllte Zeit

28. 11. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Bedenke das Ende!“

(Matthäus 24, 37 - 44)
von Wolfgang Langer

 

 

Vorstellungen wie die vom nahen Weltende oder von der plötzlichen „Ankunft des Menschensohnes“ sind uns fremd. Sie stehen zwar in den Evangelien, wie wir sie heute lesen, aber sie stammen aus einer ganz anderen, fernen Zeit. Damals hatten die Menschen Ansichten von der Welt und ihrer Zukunft, die wir nicht mehr teilen können. Wir kennen schreckliche Katastrophen: Gewaltige Flutwellen, Erdbeben und Vulkanausbrüche. Aber wir wissen, dass sie nicht das Weltall oder auch nur unseren Planeten als ganzen in den Untergang reißen können.

 

Die Botschaft trifft dennoch jeden und jede ganz persönlich. Sie deckt nämlich auf, dass die notwendige Sorge um das, was wir täglich brauchen, nicht der letzte Sinn des Lebens sein kann. „Essen und trinken und heiraten“: Gut und schön, aber irgendwann hat das ein Ende – unabhängig davon, ob jemand an Gott und ein Weiterleben bei ihm glaubt oder nicht. Was bleibt von dem, worum wir uns bemüht haben? Eine gute Nachrede, wenn wir menschenfreundlich und hilfsbereit gewesen sind? Eine posthume Verachtung, wenn wir als gefühllose Egoisten wahrgenommen wurden?

 

„Bei allem, was du tust, bedenke das Ende!“ (Sir 7, 36), ist ein Satz aus der biblischen Weisheit. Aber er hat auch ohne diese Herkunft seine Wahrheit in sich. Was ein Leben wert war, zeigt sich erst am Ende. Wenn die Summe gezogen wird aus allen Erfolgen und Misserfolgen. Dann wird sich zeigen, was wir waren und wer wir sind. Der Zeitpunkt dafür, die Stunde des Todes, steht nicht fest. Er kann sich ankündigen, aber es gibt auch den plötzlichen, unversehenen Tod.

 

Der Text fordert dazu auf, „wachsam“ zu sein. Was ist damit gemeint? Es kann doch wohl kaum bedeuten, in ständiger Anspannung zu leben, oder gar die Schlafenszeiten so weit wie möglich einzuschränken. Das hält niemand aus. Vielleicht kann man vom Gegenteil her fragen: Was heißt nicht wachsam sein? Da kommt möglicherweise vieles in den Blick, was wir aus Erfahrung kennen: Alten, eingefleischten Gewohnheiten folgen, ohne es zu bemerken, in der Routine des Alltags untergehen, kritiklos gerade gängigen Moden oder zweifelhaften „Vorbildern“ aufsitzen, ungeprüften Versprechungen von Politikern oder Werbefuzzis auf den Leim gehen, ernsten Lebensfragen möglichst lange ausweichen… Die Liste lässt sich verlängern.

 

Wer so lebt, der verliert mit der Zeit die Freiheit der persönlichen Entscheidung, die Fähigkeit, selbstbestimmt zu leben. Ohne sich dessen bewusst zu sein, lässt er oder sie sich manipulieren: Von dem, was gerade „in“ ist. Der berühmte amerikanische Soziologe David Riesman hat schon vor sechzig Jahren vom „außengeleiteten“ Typ gesprochen. Diese Lebensweise ist recht bequem. Sie vermeidet weitgehend die Anstrengung, selbst zu denken und zu urteilen. Die Verantwortung wird an andere abgegeben: An die Umgebung, an die so genannten „gesellschaftlichen Zwänge“ oder was auch immer. Ich lebe nicht sondern werde gelebt.

 

Dagegen ist der selbstbestimmte, „innengeleitete“ Mensch autonom. Statt nur Rädchen in einem gesellschaftlichen Getriebe zu sein, ist er gewissermaßen Herr seines Lebens. Verpflichtet bleibt er seinen eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen und letztlich seinem Gewissen. Dabei spielt selbstverständlich auch die Tradition eine Rolle, in der jemand aufgewachsen ist, sei es die christliche oder eine andere. Wie weit er oder sie sich davon leiten lässt, bleibt seine oder ihre eigene freie Entscheidung. Wer in diesem Sinn selbstbestimmt lebt, ist in der Lage und auch „bereit“, zu jeder Zeit Rechenschaft abzulegen von seinem Leben und Handeln: Seinem Gott oder schlicht seinen Mitmenschen gegenüber.

 

Die „große Scheidung“ (Clive Staples Lewis) zwischen denen, die „mitgenommen“ und denen, die „zurückgelassen“ werden, findet anderswo statt, wohin unser Wissen nicht mehr reicht. Was wir tun und wie wir es tun und was wir nicht tun – es wird einem letzten Urteil unterworfen sein. Wer auch immer es spricht: Gott, die Gesellschaft, die Geschichte: Wir werden ihm standhalten müssen.