Erfüllte Zeit

05. 12. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Vom Anfang der Not“

(Matthäus 24, 1 – 14)
von Michael Bünker

 

 

Geht unsere Welt den Bach hinunter? Diese Frage stellt sich derzeit wieder einmal durch den Weltklimagipfel in Cancun. Was beschönigend Klimawandel genannt wird, beginnt sich für viele Menschen als lebensbedrohende Klimakatastrophe auszuwirken. Ein bisschen Erderwärmung, was in unseren Breiten noch harmlos klingt, wird für Millionen Menschen schlimme Auswirkungen haben, bringt eine Zerstörung der Lebensräume, Hungersnöte, Wetterkatastrophen, und die Folgen werden Massenflucht sein, Krieg, Gewalt. Das Leben ist bedroht. Durch ökologische Katastrophen, die zu sozialen Katastrophen werden. Und dazu gibt es immer noch die Bedrohung des Lebens auf der Erde durch die nukleare Katastrophe. Das ist ein Kennzeichen unserer Tage: Während für unsere Vorfahren das Ende der Welt und die Vernichtung des Lebens vorstellbar war, in schrecklichen Phantasien, in Angstträumen, ist dieses Ende heute herstellbar. Durch den Druck auf den roten Knopf, durch weitere Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Apokalypse liegt nicht mehr in der Hand Gottes, sie liegt in der Hand des Menschen.

 

Am zweiten Adventsonntag wird  die von vielen erwartete vorweihnachtliche Stimmung durch das Evangelium gründlich erschwert. Durch das heutige Evangelium wird der Blick nicht auf den Stall, die anbetenden Hirten und die jubilierenden Engel gelenkt, sondern auf eine kosmische Katastrophe von ungeheuren Ausmaßen. Der Blick richtet sich auf einen zweiten Advent im tieferen Sinn. Zum ersten Advent, der Vorbereitungszeit auf das erste Kommen Jesu bis zu seiner Geburt in Bethlehem, tritt ein zweiter Advent, die Vorbereitung auf sein endgültiges Kommen, durch das die Welt wieder das wird, was sie von Anfang an gewesen ist, nämlich Gottes gute Schöpfung. Beides ist miteinander verbunden. Das deutet das Motiv der Geburt an. Einmal – im ersten Advent  -  ist es die junge Maria, die ihren ersten Sohn zur Welt bringt. Dann – im zweiten Advent - ist es diese Weltzeit, die in Wehen liegt, weil eine neue Welt geboren wird. So wie Maria schwanger geht mit ihrem Kind und es unter schlimmen Bedingungen, irgendwo in einem Viehunterstand, draußen auf dem Feld, in finsterer Nacht, heimatlos und zur Flucht bereit, zur Welt bringen wird, so geht die alte Welt schwanger mit der neuen und die Bedingungen sind wieder schlimm, in kosmischen Ausmaßen, Kriege, Hungersnöte, Verfolgung und Gewalt. Dennoch war Maria guter Hoffnung. Die Schmerzen der Geburt stellen das nicht in Frage. So auch die Welt: Alle geschilderten Schrecken stellen nicht in Frage, dass sie ebenfalls guter Hoffnung ist. Das apokalyptische Szenario mit seinen schrecklichen Bildern hat nicht das letzte Wort.

 

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat das christliche Verständnis der Zeit beschrieben. Normalerweise wird Zeit als ein beständiger Ablauf verstanden, wie in der Sanduhr, am Anfang ist alles Zukunft, aber sie rinnt uns durch die Gegenwart davon und bleibt hinter uns. Im Laufe der Zeit – im Laufe der Zeit – wird aus der Zukunft immer mehr Vergangenheit. Bis am Ende alles hinter uns liegt. Was ist jetzt mit dem Vergangenen? Für den Glauben geht es nicht verloren. Für den Glauben hat selbst das Vergangene Zukunft. Gott, der alles Verlorene, alle Verlorenen bewahrt, lässt nichts und niemanden verlorengehen. Er wird alles Vergangene wiederbringen und gibt ihm neues Leben. Zukunft und Vergangenheit erscheinen in einem neuen Licht. Der Angelpunkt dafür ist für Christinnen und Christen die Auferweckung Jesu von den Toten. Tot ist tot, sagt man, der kommt nicht wieder. Aber mit der Auferweckung Jesu ist das anders. Mit ihr beginnt diese Wiederbringung der Vergangenen. Seit Ostern gibt es Hoffnung für das Vergangene, Hoffnung für die Toten, Hoffnung für die abgebrochenen Sehnsüchte und Lebensträume. Und deshalb ist auch die Zukunft mit all ihren möglichen Schrecken nicht das Ende, sondern der Anfang des Neuen. Dieser Glaube begründet ein neues Verständnis der Zeit. Nicht mehr das lineare Fortrinnen und dann kommt irgendwann das Ende. Bleibt die Uhr stehen. Sondern das Mitnehmen des Vergangenen in die Zukunft hinein, immer mehr wölbt sich der Bauch der Schwangeren,  bis das Neue unter Wehen geboren wird, unter Schmerzen und Seufzen. Aber dann ist die Freude übergroß. So ist die Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Advent die von Jesus geprägte messianische Zeit, – Giorgio Agamben zitiert den Apostel Paulus – eine „zusammengedrängte“ Zeit, sie ist die „Zeit, die bleibt“.

 

Wie wirkt sich dieses neue, ungewohnte, dieses messianische Zeitverständnis aus? Wo immer unter den jeweils schlimmen Bedingungen für Menschen Zukunft eröffnet wird, wo sie aufgerichtet werden, wo sie eine neue Perspektive für ihr Leben erkennen, scheint das Neue auf, hat selbst das Vergangene Zukunft. Christa Wolf formuliert das in ihrem  Roman „Kassandra“ (1983) sehr treffend. Sie schreibt: „Wir waren dankbar, dass gerade wir das höchste Vorrecht genießen durften, in die finstere Gegenwart, die alle Zeit besetzt hält, einen schmalen Streifen Zukunft vorzuschieben.“  Das meint Jesus, wenn er vom Ausharren, vom Standhalten, vom Durchhalten, vom Widerstehen spricht. Diesen schmalen Streifen Zukunft in die Gegenwart vorzuschieben. Wer das tut, wird selig.

 

Matthäus hat das fein komponiert. In seinem Evangelium hält Jesus fünf große Reden, zwei davon – die erste und die letzte - auf einem Berg. Die letzte Rede spricht von den Wehen, der Geburt der neuen Welt und der Seligkeit des Standhaltens; die erste Rede, die Bergpredigt genannt wird, beginnt auch mit dem Stichwort Selig. Selig, die Leid tragen, selig, die Frieden stiften, selig, die reinen Herzens sind. In diese Seligkeit kann der Advent führen. Der erste Advent in die Seligkeit der Geburt von Bethlehem, der zweite Advent in die Seligkeit der Geburt eines neuen Himmels und einer neuen Erde.