Erfüllte Zeit

08. 12. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Sternstunden und die Gnade – Die Verheißung der Geburt Jesu“

(Lukas 1, 26 – 38)

von Maria Riebl, Psychotherapeutin und Autorin

 

 

Ich lade Sie ein, mit mir in 2 Schritten dieser symbolträchtigen Geschichte und dem Sinn des heutigen Tages nachzuspüren.

 

Da ist ein Erlebnis aus meiner Unterrichtszeit vor über 40 Jahren – es ist mir in Erinnerung, als ob es gestern gewesen wäre. Ein zartes etwa 12-jähriges Mädchen gibt die biblische Szene aus ihrer Sicht so wieder: „Diese Geschichte vom Engel, der zu Maria kommt, heißt nicht, dass der Engel trab trab herkommt und dann wieder wegfliegt“  – und sie richtet sich stolz auf: „Das heißt viel mehr! Maria hat eine ganz tolle große Aufgabe, es fällt ihr schwer, und sie sagt trotzdem Ja!“

 

Das Kind hat erfasst, dass eine Geschichte wie diese, die wir eben gehört haben, mehr meint als die Schilderung eines äußeren Ablaufs eines bestimmten Ereignisses. Erfahrungen unzähliger Menschen haben sich in diesem lange gewachsenen Text verdichtet. Es geht tatsächlich um viel mehr und es geht um anderes, als Buchstaben ausdrücken können.

 

So wie immer im Leben die Worte zu klein sind, wenn wir an etwas rühren, das uns tief bewegt. Uralte literarische Formen und Gattungen, so sagen die Experten, haben hier Niederschlag gefunden. In ähnlicher Form erzählt der Evangelist Lukas ja auch von den Anfängen des Täufers, der Jesus vorangehen sollte. Auch dort erscheint ein Engel, der Mensch erschrickt, bekommt eine Botschaft, oft auch ein Zeichen. Auch das bekannte Weihnachtsevangelium zeigt diese alten Muster im Sprachgebrauch der Bibel. Schon die Verwendung solcher Sprechweisen bezeugt, dass es in der Szene von Maria um Menschheitserfahrung geht, nicht nur um ein Einzelerlebnis eines außergewöhnlichen Menschen.

 

Am Beispiel Einzelner wird also erzählt, was auch für andere Gültigkeit haben kann. Deshalb lesen und hören wir diese Texte bis heute: Weil sie auch unser eigenes Erleben spiegeln.

 

In jedem Leben gibt es Schlüsselereignisse, den kairos, sagen die Griechen, den geglückten Augenblick. Wir sprechen auch von Sternstunden. Oft sind uns solche Erfahrungen erst viel später in ihrer Tragweite bewusst, oft vergessen wir sie jahrelang oder jahrzehntelang – und doch können sie unser ganzes Leben prägen. Auch die Szene von Maria wurde erst Jahrzehnte später niedergeschrieben.

 

Vielleicht fragen wir uns als Erwachsene oder älter Gewordene, wo unsere großen Visionen, wo die Träume der Jugend geblieben sind – scheinbar sind sie versandet, scheinbar hat das Leben ganz anders mit uns gespielt – aber nur scheinbar. Auch wenn unsere Lebensträume oft von der Realität zurechtgestutzt und in Frage gestellt wurden; sie können sich immer neu melden und verwirklichen, wenn auch in anderer Gestalt. Sie verlieren nicht ihre Kraft, wenn wir ihnen Raum geben. Und es ist nie zu spät, auch neue Lebensvisionen zu entdecken. Wozu lesen wir denn sonst heute die Szene von Marias Lebensvision? Für Sternstunden gibt es keine Altersgrenze.

 

So manche und so mancher von uns hat tiefgreifende Erfahrungen gemacht, die einem Leben Sinn und Orientierung geben und den Lebensentwurf prägen – die großen Sternstunden sozusagen. Aber wer kennt nicht auch die scheinbar kleinen Aha-Erlebnisse, die nicht weniger wichtig sind: Ein spontaner Einfall, ein unerwarteter Impuls, ein Licht, das mir aufgeht - in der Meditation oder unter der Dusche oder bei einem Spaziergang, und dass mich eine Situation neu sehen lässt, oder wenn ich eine neue Klarheit gewinne, im richtigen Augenblick das Stimmige zu tun.

 

Vielleicht sticht mich heute der Hafer, etwas in Angriff zu nehmen, das ich schon lange tun wollte oder gar etwas Neues auszuprobieren, mir freie Zeit oder ein Hobby zu gönnen, mir eine Aufgabe zuzutrauen, egal wie alt ich bin…

 

Denn für Sternstunden gibt es vermutlich keine Grenzen, jedenfalls keine Altersgrenzen!

 

„Du Begnadete“, so begrüßt der Engel Maria. Am Anfang unserer Geschichte und des heutigen Festtags steht die Zusage der Gnade. Gnade meint in der Sprache der Bibel die gute Nähe, die einen Menschen er selbst sein lässt. Es ist eine Zuwendung, die einfach da ist, ohne dass ich sie erarbeiten oder verdienen muss. Liebe um meinetwillen, nicht aufgrund meines Gutseins oder Angepasstseins. Gnade ist geschenkhafte, fraglose Liebe. Diese gute Nähe wird auch am heutigen Festtag gefeiert, der oft missverständlich „unbefleckte Empfängnis“ genannt wird. Glaubende sind überzeugt, dass Maria von Anfang ihres Daseins an im Raum dieser Gnade gelebt hat. Schon immer ist Maria Bild für den glaubenden Menschen; man denke an das bekannte Magnifikat, in dem sie die Umwertung aller Werte besingt. So kann ich am heutigen Tag etwas Wunderschönes feiern: Ich darf hoffen, dass mein Leben – und das Leben aller Menschen – vom Augenblick der Empfängnis an unter dem Vorzeichen der Gnade steht.

 

Wie oft leiden Menschen darunter, nicht gewollt und anerkannt oder gar geliebt zu sein, oft ein Leben lang. Gerade an sie ergeht die Botschaft dieses Textes und des heutigen Festes: Tief im Innern jedes Menschen gibt es ein Geheimnis der Seele, ein größeres Wollen und Wünschen. Christen sprechen von Gott, der dem Menschen die Sicherheit gibt: Du bist unendlich kostbar in deiner Einzigartigkeit. Du bist gemeint – eben du. Du darfst sein – und du sollst sein. Es ist gut, dass es dich gibt. Dieses Grundwort der Liebe macht das Dasein lebenswert und liebenswert.

 

Hier setzt auch die heilende Wirkung des Glaubens an: Wie immer ich mir Gott vorstellen kann – Es ist der Glaube an eine gute Lebenskraft, einen wohlwollenden Gott, eine warmherzige göttliche Mutter. Sie gleicht aus, was im Leben fehlt und schenkt noch viel mehr, als Menschen in ihren Begrenztheiten geben können.

 

Auch wenn viel im Leben passiert ist, das einem Menschen den Glauben an sich selbst und seinen Wert erschüttert, auch wenn viele Wünsche an das Leben unerfüllt bleiben – Auch mein Leben kann und darf glücken, von Anfang an und für immer. Maria ist so ein ermutigendes Bild für ein Dasein, das trotz aller Engpässe und Bruchstellen gelingen kann.