Erfüllte Zeit

25. 12. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Der Prolog“ (Johannes 1, 1 – 18)
von Michael Landau

 

 

Das Johannes-Evangelium bringt am Anfang erstaunlicherweise keinen Bericht vom Jesuskind, von Krippe und Hirten. All die wunderbare Weihnachtsromantik fehlt. Die Gemeinde, für die der Evangelist seinen Text schreibt, ist fasziniert davon, dass da ein Gott Mensch wird, dass dieser Gott nicht dort bleibt, wo alle Götter nach dem antiken Verständnis bleiben, nämlich in unerreichbaren himmlischen Sphären, im Olymp, fern von den Menschen, ihren Nöten und Sorgen, ihren Schmerzen und Ängsten.

 

Der Gott des Ersten Bundes, das ewige Wort, kommt näher als man es sich je vorstellen konnte. – Er wird ganz einer von uns.

 

Dass das Wort Fleisch geworden ist, wie es im Text heißt, das ist zuallererst Selbstaussage eines Gottes, der sich den Menschen mitteilt. Das tut dieser Gott nicht, indem er zu beeindruckenden Taschenspielertricks greift, sondern indem er tut, was wir im Grunde alle tun sollen: Mensch werden.

 

Mach’s wie Gott – werde Mensch! Das ist auf der einen Seite ganz einfach, denn Menschen sind wir ja schon, ohne Wenn und Aber. Auf der anderen Seite ist es aber auch unerträglich schwer. Denn wer kann schon von sich behaupten, er oder sie lebe diese Menschlichkeit in all den vielfältigen, staunenswerten Dimensionen des Guten, des Gelungenen, des Ganzen im Fragment, die möglich, die in uns grundgelegt sind?

 

In der Aussage vom Fleisch-Werden des Wortes wird deutlich, dass Gott in Beziehung treten will und dass er wesentlich, das heißt in sich selbst, Beziehung ist. Denn es gehört sozusagen zur Natur der Sache, dass ein Wort gesprochen wird, damit es jemand hört. Gott geht es um Vertrauen, Freundschaft. Gott wird ganz Mensch, das heißt auch, dass Er sich ganz in die Hände der Menschen begibt, mit aller Gefahr, die dem innewohnt. Krippe und Kreuz gehören zusammen, als die Zusage Gottes, selbst dann mit uns zu sein, wenn alles zerbrochen scheint, Hoffnungen, Träume und Wünsche.

 

Diese Menschwerdung Gottes brennt sich in die Menschheitsgeschichte auf eine bis dahin nie dagewesene Weise ein. Die heidnischen Religionen vollzogen ihren Tempelkult in aller Regel durch ein stellvertretendes Opfer. Der Gläubige kam zum Tempel, gab sein Opfer ab und die Priesterschaft vollzog dieses.

 

Wenn aber Gott Mensch wird, dann muss Gottesbegegnung vollkommen anders aussehen als bisher. Nicht mehr der Tempel aus Stein, sondern die Menschen selbst sind der erste Ort der Begegnung mit Gott. Als „königliche Priesterschaft“ und „heiligen Stamm“ (1 Petr 2,9) bezeichnet deswegen Petrus die Gemeinde, ähnlich wie Paulus selbstverständlich von „Heiligen“ und „Hausgenossen Gottes“ (Eph 2,19) spricht.

 

Diese vorgängige Zuneigung Gottes zu jedem und jeder muss nicht „erarbeitet“ oder „geleistet“ werden. Gott, der die Liebe ist (1 Joh 4,8), erfüllt sich gleichsam selbst, indem er sich als Mensch in die Welt begibt, um sein Wesen zu leben, dieses deutlich zu machen, nämlich Barmherzigkeit, Solidarität und Liebe zu allen, besonders zu denen, die am Rand stehen.

 

Der Johannes-Text bringt in hymnischer Sprache auf den Punkt, wofür es vorerst noch keine Begriffsbestimmung gibt: Ab sofort ist Gott neben all seiner Unfassbarkeit zugleich auch Person, Gegenüber, dem ich auf Augenhöhe begegnen kann, mit dem ich unvermittelt sprechen kann und der nicht zuletzt in all den Fürchterlichkeiten, die Jesus als Mensch in der Welt widerfahren sind, weiß, wovon auch wir Menschen sprechen, was wir fühlen und wie verzweifelt wir sind, wenn sich das Leben in persönlichen Katastrophen abspielt. Er ist nicht fern, sondern hat all das ohne Einschränkungen am eigenen Leib gespürt und erfahren.

 

Ein Gott, der Mensch wird, ist keine Energie, die nutzen und benutzen kann, wer über die rechte Methode verfügt. Ein Gott, der Mensch wird, das ist die konsequente Weiterführung der Befreiungsgeschichte des Ersten Bundes. Plötzlich ist die „Ehre Gottes“ kein leeres Ritual mehr, sondern drückt sich im Annehmen des Anderen, der Anderen aus (vgl. Röm 15,7).

 

Der sogenannte Johannes-Prolog nimmt vorweg, was der menschgewordene Gott hier auf der Erde leben und erleben wird, und er spannt zugleich den Bogen zur Heilszusage für alle Menschen, weit über seine Zeitgenossen hinaus. Alle sollen „das Leben haben in seinem Namen“ (vgl. Joh 20,31), wie es am Ende des Johannesevangeliums, dem Epilog, heißen wird.

 

Bildlich gesprochen geschieht, was Michelangelo im Zentrum des Deckenfreskos der Sixtinischen Kapelle dargestellt hat: Gott streckt seine Hand dem Menschen entgegen. Die Hand Gottes bleibt ausgestreckt. Sie ist da, auch wenn man es nicht weiß, sie nicht spürt, und sogar wenn man nicht daran glaubt, dass sie da ist.

 

Der Mensch ist frei, sie zu ergreifen, sich beschützen, behüten, geleiten zu lassen. Wenn er das tut, wenn er einstimmt in das Ja Gottes zu dieser Welt, dann wird er nicht unfrei, sondern frei, nicht eng, sondern weit, dann erfährt er etwas von der Freiheit, der Weite, der Freude der Kinder Gottes, von der Möglichkeit in Wort und Tat zu lieben, zu der Gott uns berufen und befreit hat.