Erfüllte Zeit

26. 12. 2010, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Flucht nach Ägypten“ (Matthäus 2,13 - 15.19 -23)

von Franz Gmainer-Pranzl

 

 

Eine Vorzeigebiografie sieht anders aus. Dieser Prediger, der von Dorf zu Dorf unterwegs ist, eine bunte Schar von Männern und Frauen um sich sammelt, immer wieder die religiöse und politische Obrigkeit irritiert und mit einem Anspruch daherkommt, der buchstäblich alles auf den Kopf stellt – genau dieser Mann hat eine zweifelhafte Herkunft. Er ist ein Migrant … Geflohen sind sie damals, er und seine Eltern, ausgewandert nach Ägypten, und dann wieder zurückgekommen. Wie, das weiß kein Mensch. Es wird wohl nicht viel anders gewesen sein als bei allen anderen Flüchtlingen: Überstürzte Abreise, Angst und Entbehrung, auf verborgenen Wegen raus aus dem Land. Ob die zuständigen Behörden in Ägypten dieser jungen Familie wohl einen legalen Flüchtlingsstatus gewährten? Ob anerkannt wurde, dass sie in ihrer Heimat tatsächlich verfolgt wurden? Wie auch immer – sie kamen wieder ins Land zurück. Dieser Jeschua, der als Verkünder und Heiler herumzieht, statt seinem Beruf als Zimmermann nachzugehen, er ist ein Prediger mit Migrationshintergrund. Ist nicht in seinem Auftreten schon immer etwas Fremdes zu spüren gewesen? Ist er nicht mit seinen eigenen Leuten scharf ins Gericht gegangen, anstatt sie und ihre Institutionen und Traditionen zu verteidigen? Tut ein „anständiger Prediger“ so etwas?

 

Aber wozu die Aufregung? Zahlt es sich aus, sich wegen einiger höchst umstrittener Verse aus der so genannten „Kindheitsgeschichte“ des Matthäusevangeliums die Vorstellungen über Jesus durcheinander bringen zu lassen? Sind nicht diejenigen, die ein wenig mit Theologie vertraut sind, schon längst darüber aufgeklärt, dass diese Passagen „historisch gar nicht stimmen“, dass sie „nur symbolisch gemeint“ sind, wie beschwichtigend gesagt wird? Haben sich nicht viele damit beruhigt, dass all diese Geschichten von „Kindermord“ und „Flucht nach Ägypten“ letztlich „gar nicht so wichtig sind“, weil die „eigentliche Botschaft“ des Evangeliums damit „nichts zu tun hat“?

 

In der Tat könnte diese eigentümliche Migrationsgeschichte mit den Mitteln historischer Kritik aus dem biblischen Gedächtnis getilgt und so diese irritierende Abweichung vom geltenden Bild über Jesus wieder „normalisiert“ werden. Auf diese Weise kann Jesus endlich wieder „einer von uns“ werden, der genau das sagt und tut, was man sich in Sachen Religion von ihm erwarten kann. Und die so genannte „Heilige Familie“ kann dann zu einem leicht handhabbaren Vorbild für das werden, was als „christliche Familien“ bezeichnet und gegen alles Fremde, Ungewohnte und Abweichende abgegrenzt wird. Solche „Bewältigungsversuche“ der Fremdheit Jesu sind der Gesellschaft und der Kirche immer wieder gelungen – leider. Aber es gibt etwas, das sich dieser Angleichung widersetzt: Es ist die von Millionen von Menschen erlittene Erfahrung der Flucht, der Vertreibung, der von Gewalt und Bedrohung erzwungenen Migration.

 

Was der Evangelist Matthäus über die Familie Jesu erzählt, erkennen viele Migrantinnen und Migranten auf dieser Welt als ihr eigenes Schicksal wieder. Sie nehmen wahr, dass in jenen Zeugnissen, die zum kanonischen Glaubenszeugnis der christlichen Kirchen gehören, die Geschichten von Gewalt und Hass, von Vertreibung und Flucht nicht elegant gelöscht wurden, sondern als Stachel einer unbequemen Erfahrung in den biblischen Texten gegenwärtig bleiben. Menschen, die selber auf der Flucht sind, können die überraschende Entdeckung machen, dass die Geschichte Gottes mit Israel eine Migrationsgeschichte unerhörten Ausmaßes ist, eine Geschichte, die zugleich von Hass und Vertreibung, von Liebe und Geborgenheit, von Angst und ungewissem Aufbruch, von Hoffnung und geschenkter Vollendung geprägt ist. Auf den mehr als krummen Zeilen der biblisch bezeugten Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, von Gewalt und Entfremdung wird eine Geschichte der Zuwendung geschrieben, die die begründete Hoffnung schenkt, dass die Heimat, die Gott verheißt, größer und menschlicher ist als die vielen kleinen „Heimaten“, die oft so fanatisch und engstirnig verteidigt werden.

 

Nicht selten wird die biblische Einsicht vergessen, dass Gott kein verfügbares Aushängeschild einer religiösen Gruppe, einer bestimmten Gesellschaft oder einer Kirche ist, dass das Geheimnis Gottes weder das Eigentum eines „christlichen Abendlands“ noch eines „islamischen Morgenlands“ ist. Gottes Anspruch lässt sich nicht eingemeinden. Er begegnet im Eigenen und im Fremden, im Vertrauten und im Verstörenden, in den heiligen Traditionen und in den unerwarteten Einbrüchen. Er begegnet schließlich – wie Christinnen und Christen glauben – in außergewöhnlich radikaler Weise in jenem befremdenden Prediger namens Jeschua, den sie den Christus – also den Messias – nennen, das „Wort Gottes“ in Person, der am eigenen Leib jene Erfahrung machen musste, die mitten im feierlichen Weihnachtsevangelium angesprochen wird: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1,11).

 

In diesem Schicksal Jesu, des Predigers mit Migrationshintergrund, und seiner Familie wird ein Zweifaches deutlich: Zum einen erweist er sich in radikaler Weise als der „Gott mit uns“, als – so die hebräische Übersetzung – der „Emanuel“. Er ist nicht einer, der anderen „gute Ratschläge“ gibt; er ist einer, der selbst erlebt hat, was so vielen Menschen zugemutet wird: Heimatlos zu sein, vor Gewalt und politischer Willkür fliehen zu müssen, zum Fremden zu werden; der auch dann, wenn er wieder zurückkommt, von dieser Erfahrung gezeichnet bleibt.

 

Zum anderen wird in dieser unsteten Existenz Jesu offenbar, wer und wie Gott selbst ist: Er verharrt nicht in seiner Hoheit, um seine herrschaftliche Identität zu genießen; nein: Er ent-äußert sein Eigenes, sich selbst, in diese Welt, er geht in die Fremde, um den Menschen nahe zu sein – allen Menschen diesseits und jenseits der von ihnen selbst errichteten Grenzen. Gott selbst wird zum Fremden, um die Entfremdeten heimzuholen; in der Familie Jesu, in dieser einfachen, armen Handwerker- und Flüchtlingsfamilie geht er den Weg der Menschen mit, den Weg vor allem der Ausgegrenzten und Unterdrückten. So wird die Fremdheit, der diese „Heilige Familie“ ausgesetzt ist, zum Ort unsagbarer, Grenzen überwindender Liebe.

 

Das Fest der Heiligen Familie, das vielen Menschen heute als kitschige Reinszenierung einer längst vergangenen Idylle erscheinen mag, weist auf eine gewaltige Zumutung hin: In den Fremden und Ausgestoßenen ist der Gott aller Menschen gegenwärtig. Sein Licht leuchtet in der Finsternis – im Dunkel des Unverständnisses und der Angst, im Dunkel der Flucht und der Hoffnungslosigkeit, im Dunkel der Gewalt und der Hetze gegen Fremde.

 

Es ist eine anspruchsvolle Botschaft, die hier zur Geltung kommt; es ist ein neuer Aufbruch, ein – im wahrsten Sinn des Wortes – „traumhafter“ Weg, der Josef gewiesen wird, der allen gezeigt wird, die von Gerechtigkeit und Menschlichkeit träumen. Haben diese Träume auch heute eine Chance? Lässt sich ein Land wie Österreich vom großen Format dieser biblischen Verheißung beflügeln oder vom Kleinformat der täglichen Angstmacherei lähmen? Setzt dieses Fest der „Heiligen Familie“, so sehr es in die Abgründe menschlichen Lebens blicken lässt, nicht eine hoffnungsvolle Dynamik frei, die aus der Verheißung lebt, dass eine andere Welt möglich ist? Und hat das Geschehen von Weihnachten nicht schon die Erfahrung eröffnet, dass diese „andere Welt“ wirklich ist?