Erfüllte Zeit

01. 01. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Geburt Jesu“ (Lukas 2, 16 – 21)
von Regina Polak

 

 

Am 1. Jänner – dem 8. Tag nach Weihnachten - feiern die römisch-katholische, die evangelische und die anglikanische Kirche den Tag der „Namensgebung des Herrn“, wie der Gedenk/Feiertag offiziell heißt. In der orthodoxen und koptischen Tradition wird jüdischer Tradition entsprechend heute auch der Tag der Beschneidung Jesu gefeiert. Von dieser erzählt das heutige Evangelium: „Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus.“ In der katholischen Kirche ist der 1. Jänner auch das Hochfest der Gottesmutter Maria. Die Festreform Paul VI. hat 1969 dieses Marienfest dominant gemacht und die Beschneidung gewissermaßen "abgeschafft". Paradox, durch die Wiedereinführung des "alten usus" in die Liturgie hat das Fest der Beschneidung Jesu in der katholischen Kirche eine Nischenexistenz erhalten. Beschneidung ist seit Abraham das Zeichen des untrennbaren und bis heute nicht getrennten Bundes mit Jahwe. Christinnen und Christen erinnern sich heute auch daran, dass Jesus Jude war.

 

Jesus war Jude. Das bedeutet: Er verstand sich selbst als Sohn des Volkes Israel und lebte aus den Erfahrungen, dem Glauben und den Verheißungen dieses Volkes. Er hatte jüdische Vorfahren, wuchs in Nazareth, einer jüdischen Kleinstadt auf, und besuchte als 12-Jähriger den Tempel. Er legte in der Synagogengemeinde seiner Heimatstadt die Haftara, den prophetischen Wochenabschnitt zu Jesaja, aus – wie  Lukas erzählt: "Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe."

 

Jesus betete die jüdischen Gebete und feierte die jüdischen Feste. Er war vertraut mit den Psalmen, der Tora, den Propheten und lernte mit ihnen glauben. Als Wanderprediger verstand er sich zunächst auch „nur zu den verlorenen Schafen Israels gesandt“, wie es bei Matthäus heißt (Mt 15,24), lernte aber im Lauf der Zeit, dass seine Botschaft auch für die Heiden von Bedeutung war. (Davon konnte ihn die syrophynizische Frau mit ihren nachdrücklichen Bitten um Hilfe überzeugen.) Und bei Matthäus ist auch zu lesen, dass er nicht gekommen ist, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern um zu erfüllen: „Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.“ Jesus legte seine Tradition – wie bei jüdischen Lehrern üblich – auf spezifische Art aus: Er stellte die endzeitliche Reich-Gottes-Botschaft in die Mitte seines Handelns und Sprechens, betrachtete das Liebesgebot als zentralen Maßstab und blieb seiner Tradition treu.

 

Jesus war also Jude. Es gab Zeiten, in denen dieses Jude Sein geleugnet wurde. In der Zeit des Nationalsozialismus gab es Versuche nachzuweisen, Jesus sei Arier gewesen. Auch in der Geschichte des Christentums hat man diese Tatsache zwar nicht bestritten, aber wenig bis keine Konsequenzen daraus gezogen – dass Antisemitismus beispielsweise für Christen keine Option ist. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist das Jude Sein Jesu wieder in Erinnerung gerufen worden. Auch das Verhältnis zum Judentum wurde neu bestimmt und verpflichtet Katholiken und Katholikinnen dazu, dem in ihrem Glauben und ihrer Praxis Rechnung zu zollen. Was bedeutet es für den Glauben von Christinnen und Christen heute, dass Jesus Jude war? Es geht dabei ja nicht nur um ein historisches Phänomen. Es geht um das Verhältnis zum Judentum, das nicht nur Vergangenheit, sondern auch Gegenwart für Christen ist. 

 

Einem Christen begegnet Jesus in den Darstellungen zumeist als „einer von uns“. Insbesondere in der Weihnachtszeit sieht man das junge Jesuskind nicht selten als blondgelocktes Baby, in einer Tiroler Krippe liegend. Jesus, ein Tiroler? In Afrika begegnet uns Jesus als Schwarzer dunkelhäutig, in Asien als Asiat. Solche Darstellungen sind legitim. Wenn Jesus aussieht, als wäre er einer von uns, wird damit auch zum Ausdruck gebracht: Jesus ist mit uns. Das ist eine zentrale Dimension der Weihnachtsbotschaft, der Theologie von Weihnachten.

 

Und: Jesus war von Geburt an Jude, der nicht so ist wie wir Heidenchristen, die wir erst durch Jesus Christus in den Bund mit Gott hineingenommen sind. Dieser Jesus ist für viele Christen vielleicht auch fremd. Nicht, weil Juden an sich Fremde sind, sondern weil sich Christen zu lange zu wenig mit den jüdischen Quellen auseinandergesetzt haben, die untrennbar zu ihrem Glauben gehören. Deshalb kann der Jude Jesus Christen befremden.

 

Und das ist gut so. Denn in dieser Erfahrung liegt auch eine Frohe Botschaft. Jesus lässt sich nicht vereinnahmen – nicht von Eigeninteressen eines Menschen oder einer Institution; nicht von menschlichen Vorstellungen, die immer begrenzt sind. Das kann befreien. Der fremde Jesus erinnert auch daran, dass jeder Mann, jede Frau, jedes Kind ein Geheimnis hat, das sich nicht zur Gänze erfassen lässt. Er erinnert daran, dass man keinen Menschen besitzen kann. Die Befremdung ist heilsam auch insofern, als wir erfahren: Wir brauchen einander und wir können voneinander lernen, da gibt es immer noch etwas Neues zu erkennen. Von Jesus. Von anderen Menschen. Und von Jüdinnen und Juden.

 

Diese Botschaft ist vielleicht irritierend. Aber sie ist heilsam und unverzichtbar in einer Zeit, in der in Österreich das Phänomen der Fremdenfeindlichkeit stärker wird. Der Jude Jesus: Er gibt uns zu denken.