Erfüllte Zeit

02. 01. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

„Die ersten Jünger“ (Johannes 1,43-51)

von Thomas Hennefeld

 

 

Im letzten Satz dieses Abschnitts wird den Jüngerinnen und Jüngern Jesu ein Ausblick auf die herrliche Gegenwart Gottes gewährt, ein Ausblick mit Hilfe eines Rückgriffes in die biblische Geschichte. Nämlich zu jener nächtlichen Szene, in der Jakob auf seiner Flucht vor seinem Bruder Esau im Traum eine Himmelsleiter erblickt, die von der Erde bis zum Himmel reicht und auf der Engel auf- und niedersteigen.

 

Ich habe dieses Bild in mich eingesogen und zwar ganz konkret im Chorraum des reformierten Frauenmünsters in Zürich. Der französisch-jüdische Maler russischer Herkunft, Marc Chagall, hat dieses Motiv immer und immer wieder in allen möglichen Variationen gemalt. Im Frauenmünster widmet Chagall Jakob nicht nur eine Szene, sondern ein ganzes Fenster, das in einer hohen schmalen Glaswand zwischen Prophetenfenster und Christusfenster angesiedelt ist.

 

Im unteren Bildteil befindet sich Jakob, aber nicht zusammengekauert auf der Erde, auf einem Stein schlafend, wie in der biblischen Geschichte, sondern durch den Raum schwebend und hellwach mit offenen Augen, die Hände faltend und halb dem Christusfenster zugewandt, oben die Engel auf der Himmelsleiter und dazwischen eine andere Szene, nämlich der Kampf Jakobs mit einem Unbekannten, vielleicht auch einem Engel, zu dem Jakob schließlich niedersinkt und den Segen erbittet. Der Hintergrund der Szene ist in mystisch anmutendem nachtdunklem Blau gehalten, eine Farbe, die Chagall überall dort benutzte, wo er Übersinnliches und Himmlisches zum Ausdruck bringen wollte. Für Chagall ist Jakob nicht nur ein Erzvater, sondern er steht stellvertretend für viele Patriarchen und nicht zuletzt für das Volk Israel, das sich Gott erwählte, das er für seine Übertretungen und Vergehen  bestrafte und mit Verheißungen segnete.

 

Dieses mystische Bild, das zur Mediation einlädt, ist für mich auch der Schlüssel zu der seltsamen und nicht gleich verständlichen Szene im Johannesevangelium. 

Die rasche Berufung von Philippus bildet nur den Auftakt der Szene. Im Zentrum steht der designierte Jünger Nathanael. Dieser ist zuerst skeptisch gegenüber Jesus, dann aber fasziniert von ihm, weil Jesus anscheinend über wunderbares geheimnisvolles Wissen verfügt, als habe er hellseherische Fähigkeiten. Am Ende steigert Jesus selbst die hohen Erwartungen der Jünger durch die Verheißung mit dem Bild der Engel, die sich auf dem Menschensohn niederlassen.

 

Die Szene spielt zwischen Jesu Taufe und dem ersten öffentlich vollbrachten Wunder auf der Hochzeit zu Kana.  Jesus ist auf der Suche nach seiner Jüngerschaft. Einige Jünger stammen aus dem Kreis Johannes des Täufers, andere fühlen sich unmittelbar von Jesus angezogen.  Dabei tritt Jesus nicht als Guru auf, der Männer und Frauen um sich schart und verehrt werden möchte.  Jesus drängt sich nicht auf. Vielmehr findet ein Jünger einen anderen, zu wieder einem anderen sagt Jesus tatsächlich: Folge mir nach! Und er folgt, weil er davon überzeugt ist, den Messias vor sich zu haben. Aber dieser Messias wird vom neu gewonnen Jünger Philippus nicht als Deus ex machina, als Lichtgott aus dem Himmel gefeiert, der auf die Erde niedersaust, um dem Schicksal eine Wendung zu geben, sondern als derjenige, der bereits in der Schrift angekündigt wird. Für Nathanael ist das aber unverständlich, vor allem, wenn jemand aus der Stadt Nazareth kommt und der Sohn Josefs ist. Und tatsächlich spielt Nazareth in der jüdischen Tradition keine Rolle. Umgekehrt werden Bethlehem als Geburtsstadt Jesu und die Jungfrauengeburt mit keiner Silbe erwähnt. Der Evangelist Johannes dürfte mit der Vaterschaft Jesu kein Problem gehabt haben.  Für den Leser und Hörer erstaunlich, erkennt Jesus in Nathanael aber einen rechtschaffenen Menschen aus dem Volk Israel, der ohne Trug, also wahrhaftig, ist.  Da ist also der Sohn Gottes nicht wie ein Jungmanager oder ein Headhunter unterwegs auf der Suche nach geeignetem Personal, nach Leuten mit bestimmten Fähigkeiten und Charakterzügen, sondern dieser Jesus zieht durch die Lande, lässt sich auf Menschen ein, spricht mit ihnen, macht sie betroffen und versetzt sie in Begeisterung.  Er lädt den einen oder anderen ein, mitzukommen. Er verblüfft wieder andere damit, dass er ihnen, wie ein guter Therapeut, die Wahrheit über sie selber sagt. Die Jünger, die sich von Jesus in den Bann ziehen lassen, spüren, dass es sich bei ihm nicht um irgendeinen Wanderprediger oder nur um einen Lehrer handelt, sondern um den Menschensohn, um den Messias, auf den das jüdische Volk schon seit den Zeiten der Propheten sehnsüchtig wartet.

 

Wenn Philippus Jesus als jenen definiert, auf den schon in der Thora und bei den Propheten hingewiesen wird, dann ist die Konsequenz nicht die, dass alle diesem Gedanken folgen müssen, sondern für Christen muss die Folge sein, dass Jesus und der christliche Glaube in der Thora und bei den Propheten verwurzelt ist: ohne dieses jüdische Erbe keine christliche Religion. Und in der Schrift einen Beweis für die Messianität Jesu zu sehen, gelingt nur dem, der von vorn herein von der Messianität Jesu überzeugt ist.

 

So wird auch Jakob nicht einfach abgelöst durch eine andere Gestalt, sondern die Verheißung Gottes für Jakob konzentriert sich ganz auf den Menschensohn und auf seinen Auftrag.

 

Das Johannesevangelium ist mystisch wie die Bilder von Marc Chagall. Wenn vom Menschensohn die Rede ist, auf dem sich Engel niederlassen, dann geschieht das nicht im Kontrast zu anderen biblischen Gestalten und als Abgrenzung zu einem anderen Denken und Glauben, sondern inklusiv und allumfassend. Der Erzvater Jakob empfängt für alle Zeiten die Gnadenzusage Gottes. Jesus als Menschensohn ist der Mensch gewordene Gott, der seine Jünger durch den geöffneten Himmel das Heil schauen lässt, das aber an Leid und Tod nicht vorbei führt, aber auch den Aufstieg in den Himmel kennt.  Wenn Jakob nach dem Erwachen aus seinem Traum feststellt, dass der Herr hier war und er es nicht wusste, so wird für Johannes Jesus selber zum Haus Gottes und die Engel weisen darauf hin, dass das Himmlische ins Irdische einbricht. Im Menschensohn Jesus  sind alle Schranken aufgehoben und alle Vorherrschaftsansprüche hinfällig, auch die der Religionen.  Der Menschensohn verbindet sich mit dem Vater, auf dass alle Menschen den geöffneten Himmel schauen und sein Reich, in dem sich Erde und Himmel miteinander verbinden, wie in den Bildern von Marc Chagall.