Erfüllte Zeit

20. 02. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Von der Vergeltung und der Liebe zu den Feinden“ (Matthäus 5, 38 – 48)
von Martin Stowasser, ao. Univ.-Prof. am Institut für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Wien

 

 

Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt worden ist, „Aug um Aug, Zahn um Zahn“, ich aber sage euch: Widersteht dem Bösen nicht!“

 

Auge um Auge, Zahn um Zahn war ein für seine Entstehungszeit durch und durch vernünftiges Programm, Gewalt zu reduzieren. Persönliche, oft maßlose Blutrache bekam ein Regulativ vorgesetzt. „Widersteht dem Bösen nicht!“ ist dagegen ein eher unvernünftiger Grundsatz – zur Zeit des Matthäus und auch heute noch.

 

Matthäus entfaltet diesen unvernünftigen Grundsatz durch vier Beispiele weiter. Zwei handeln von roher Gewalt. Auf die rechte Wange geschlagen, soll man auch noch die andere hinhalten. Das zweite Gewaltbeispiel hat die römische Militärbesatzung der Provinz Palästina vor Augen, die zu Transport- und Wegediensten zwang. Zwei Meilen statt nur eine mitzugehen, zielt also nicht auf den Sonntagsspaziergang mit Leuten, die man als eher anstrengend empfindet, sondern hier geht es um erzwungene Kollaboration mit einer verhassten Besatzungsarmee. Matthäus hat aber auch zwei Beispiele aus der Welt des Besitzes parat. Wem vor Gericht sein Tagesgewand genommen werden soll, um angehäufte Schulden abzutragen, der soll den wärmenden Mantel für die kalte Nacht zusätzlich drauflegen, obwohl dieser als Existenzsicherung vor Pfändung geschützt war. Abschließend wechselt Matthäus zum Geld. „Wer dich bittet, dem gib, wer von dir leihen will, den weise nicht ab.“ Das ist eine Herausforderung selbst in Zeiten, in denen Geiz nicht geil ist.

 

Mit der sogenannten 5. Antithese, befinden wir uns mitten in der Bergpredigt des Matthäusevangeliums. Insgesamt bietet Matthäus sechs derartige Beispiele, die sich an Weisungen der alttestamentlichen Tora orientieren und deren Auslegung von großer Radikalität geprägt ist: Ehescheidung wird grundsätzlich verworfen wie auch jede Art des Eides, umfassende Versöhnungsbereitschaft steht am Programm ebenso eine Nächstenliebe, die selbst den Feind mit einschließt. „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ Mit diesem Spitzensatz beendet Matthäus die 6. Antithese und insgesamt seine Beispielreihe, die an vielen Stellen unrealistisch und häufig eben auch unvernünftig ist.

 

Die Ausleger des Matthäus haben sich redlich bemüht, sein Anliegen zu verstehen, viele Menschen haben versucht, es in die Praxis umzusetzen. Grundlegende wie praktische Fragen taten und tun sich dann auf: Zielt Matthäus auf eine Entfeindungsstrategie, die Gewalt durch entwaffnende Gewaltlosigkeit überwindet? Aber funktioniert das; und wenn nicht, was dann? Stabilisiert Gewaltverzicht am Ende nicht geradezu ungerechte Verhältnisse, und die Gewaltbereiten nützen dies schamlos aus? Kann man Gewaltlosigkeit leben, sobald nicht mehr ich, sondern der Mensch neben mir oder ein benachbartes Volk Opfer der Gewalt wird? Wie stehen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik dann zueinander?

 

Die großen Zusammenhänge oder Extremforderungen – die können freilich auch manchmal wie ein Schlupfloch sein. Denn wann muss man schon einmal über Krieg oder Frieden entscheiden? Ebenso wenig droht einem täglich auf der Straße rohe Gewalt, so dass man die andere Wange hinhalten müsste. Und so hat Matthäus als Praktiker das abschließende Beispiel über das Schenken und Verborgen von Geld angefügt. Von dem ist es gar nicht leicht festzustellen, wie es dem Spitzensatz zuzuordnen ist: „Widersteht dem Bösen nicht!“ Scheinbar soll keine Logik des Ausgleiches herrschen, kein Aug um Aug, Zahn um Zahn, wenn er fordert: „Dem, der dich bittet, gib, und dem, der von dir leihen möchte, weise ihn nicht ab!“ Matthäus zielt also auf das liebe Geld. Hier wird es persönlich, alltäglich und sehr konkret – und bleibt unvernünftig. Man soll freigebig sein, selbst dann, wenn man schon abschätzen kann, dass Geborgtes niemals zurückbezahlt werden wird.

 

Das Christentum hat sich in den ersten Jahrhunderten primär nicht deshalb ausgebreitet, weil aktiv missioniert und Inhalte verkündet wurden, sondern weil es beispielhaft gelebt wurde. Zeus, wie allen anderen Göttern, war es gleich, ob der Arme zu essen hatte; ob der Schwache zu seinem Recht kam, kümmerte die Götterwelt des Olymp ebenso wenig. Der Gott, der in der Bibel beschrieben wird, erweist sich hier als antike Ausnahmeerscheinung. Er ergreift Partei und das nicht für die Reichen und nicht für die Mächtigen. Den durchaus werbenden Blick auf diesen Gott hat Matthäus in seinen Antithesen mit im Sinn. Eine schrankenlos unvernünftige Liebe zum Nächsten soll Zeugnis geben von einem Gott, der zu solcher Liebe motivieren kann und auf ihn neugierig machen. Kurz vor den Antithesen signalisiert Matthäus diesen größeren Horizont: „Es soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (Mt 5, 16) Vielen Menschen ging ein Licht auf und sie fanden nach und nach von ihren Göttern zu diesem neuen Gott.

 

Hinter den Antithesen der Bergpredigt steht kein Appell an die Vernunft, sondern an das Herz, an eine erwachende Liebe zum überfließend Guten. Und dabei ist Konkretes gefordert, nicht bloß Gefühlsduselei! Wie man aber überhaupt so unvernünftig werden kann, dazu erzählt Matthäus ein ganzes Buch von einem Jesus, der sich dieser Unvernünftigkeit hingegeben hat und von dessen Gott, der am Ende diese Unvernunft zu seiner eigenen gemacht hat. Es als Ganzes zu lesen könnte eine spannende Lektüre werden.