Erfüllte Zeit

06. 03. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Maria und Marta“ (Lukas 10, 38 – 42)

von Johannes Wittich

 

 

Die Berichte des Neuen Testaments belegen es: Auch Jesus konnte es passieren, dass er Menschen vor den Kopf gestoßen, ja, vielleicht sogar persönlich verletzt hat. Die Geschichte von Maria und Marta ist die Geschichte einer Zurückweisung - und der damit verbundenen Kränkung. Marta bittet Jesus um Hilfe und Unterstützung. Diese wird ihr nicht nur verweigert. Nein, sie bekommt auch noch vorgehalten, wie unpassend und unberechtigt ihr Anliegen ist.

 

Die Szene, die uns Lukas schildert, spielt sich im Haus der beiden Schwestern ab. Jesus ist zu Besuch und unterhält die Gäste. Diese sind in der damaligen Zeit und Welt wohl alle nur Männer gewesen. Nur Männern steht es zu, sich mit den weisen Gedanken eines Rabbis, eines Lehrers, zu beschäftigen, ja, vielleicht sogar mit ihm zu diskutieren. Die Rolle der Frauen im Haus ist auf das Versorgen und Dienen reduziert. Marta weiß das und verhält sich entsprechend. Ihre Schwester Maria durchbricht diese festgelegten Rollen, und das gleich in zweierlei Hinsicht: Auf der einen Seite weigert sie sich, ihren Pflichten im Haushalt, ihren Verpflichtungen als Gastgeberin nachzukommen. Auf der anderen Seite maßt sie sich an, als Frau, ebenfalls zu Füßen des Meisters zu sitzen und ihm zuhören zu dürfen.

 

Wie unmöglich dieses Verhalten angesichts der Konventionen der damaligen Zeit ist, spürt offensichtlich nur ihre Schwester Marta. Vielleicht hat sie sich gerade deswegen bemüht, ihre Pflichten als Gastgeberin ganz besonders gut zu erfüllen. Vielleicht hat sie gehofft, damit zumindest ein wenig die Peinlichkeit überspielen zu können, die sich da gerade vor den Augen der Gäste in ihrem Haus manifestiert. Marta bemüht sich – und scheitert. Es wird ihr alles einfach zu viel. Sie wendet sich an Jesus mit einem nur zu verständlichen Anliegen: „Schaff du Ordnung; sorge du dafür, dass die Regeln wieder eingehalten werden. Regeln, nach denen es sich doch so gut leben lässt.“

 

Marta weiß sich in ihrem Anliegen von Konventionen und Traditionen unterstützt. Sie will, dass das geschieht, „was sich gehört.“ Und hofft, dass Jesus ihre Einstellung unterstützen wird. Das allerdings geschieht nicht.

 

Jesu Reaktion ist rätselhaft. Was meint er mit: „Maria hat das gute Teil erwählt“? Generationen von Theologinnen - und besonders Theologen - haben versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Gibt Jesus hier einer bestimmten Ausformung des Glaubens den Vorzug? Stellt er das Hören über das Tun?

 

Dem Kirchenvater Origines  (er starb Mitte des 3. Jahrhunderts) ist zu verdanken, dass diese Bibelstelle immer wieder als Kronzeuge für den Vorrang des kontemplativen Lebens vor dem aktiven Leben eines Christen oder einer Christin strapaziert wird. Dabei kommt diese Unterscheidung gar nicht aus dem Christentum, sondern aus der griechischen Antike. Martin Luther hat diese Interpretation abgelehnt, nicht zuletzt auch, weil sie als Rechtfertigung des Mönchtums herangezogen wurde. Luther sieht Marta vielmehr als typisches Beispiel eines Menschen, der versucht, aus seinen Taten und Werken heraus Gott zu imponieren, also als eine Art Fallstudie der Werkgerechtigkeit. Johannes Calvin ist in seiner Auslegung dieser Bibelstelle etwas vorsichtiger: Besinnung und Nachdenken ist für ihn Voraussetzung, überhaupt etwas tun zu können. Oder anders gesagt: Ich muss erst wie Maria zuhören und nachdenken. Erst dann kann ich wie Marta aktiv werden.

 

Vielleicht ist das der eigentliche Vorwurf, der Marta gemacht werden kann. Vielleicht ist es das, wofür Jesus ihr die Augen öffnen möchte: Nicht, dass es grundsätzlich falsch ist, etwas tun zu wollen. Sondern dass Marta gefangen ist im Tunnelblick eines uneingeschränkten Aktionismus. Dass sie nur sieht, was sie tun muss – und nicht sehen kann, was sie braucht. „Marta, Marta“, sagt Jesus, „du hast viel Sorge und Mühe.“ Zweimal nennt er ihren Namen, möchte wirklich zu ihr vordringen mit dem, was er zu sagen hat. Macht sich Sorgen um diese Frau, die unter der Last der ihr auferlegten Erwartungen zusammenzubrechen droht.

 

Jesus bietet Marta eine Alternative an: Nicht sie muss ihm etwas zu bieten haben als Gastgeberin. Er hat als Gast etwas mitgebracht. Mit seinem Kommen in das Haus von zwei Frauen, dadurch, dass er widerspruchslos akzeptiert, dass eine Frau im Publikum ist und ihm zuhört, hat er schon mit Konventionen und Regeln gebrochen. Und jetzt möchte er auch Marta helfen, die Befreiung zu spüren, die dann eintritt, wenn ganz dem Moment vertraut wird und nicht dem, was man selbst schaffen muss. Und schon gar nicht irgendwelchen Regeln und Gesetzen. Jesu Satz ist eigentlich nicht Kritik, sondern vielmehr seelsorgerliche Diagnose: Siehst du nicht Marta, in was du dich da hineinmanövrierst? Merkst du nicht mehr, was du brauchst, in all dem Sorgen darüber, was wohl andere von dir erwarten könnten?

 

Leider berichtet Lukas nicht, wie es mit den beiden Schwestern weitergegangen ist. Er berichtet nicht, ob Marta die Antwort Jesu wirklich als Angebot sehen konnte und nicht nur als niederschmetternde Kritik. Es wäre nur zu verständlich, wenn Marta nach so einer Antwort wütend den Raum verlassen hätte. Sich unverstanden und allein gelassen gefühlt hätte. So leicht und so schnell lassen sich vertraute Denkmuster nicht einfach aufgeben.

 

Ich wünsche mir trotzdem, dass Marta in diesem Augenblick gemerkt hat, worum es geht. Und dass sie dann wirklich alles stehen und liegen gelassen hat und sich an der Seite ihrer Schwester zu Jesu Füßen niedergesetzt hat. Ich hoffe, dass sie es geschafft hat, so über ihren eigenen Schatten zu springen. Ich wünsche mir allerdings auch, dass dann am nächsten Tag, nachdem alle Gäste wieder fort gewesen sind, Maria ein Wort der Anerkennung für das Engagement ihrer Schwester gefunden hat. Und, ganz praktisch, dass sie ihr dann beim Aufräumen des Hauses geholfen hat.

 

Maria und Marta sind zwei Schwestern, die aufeinander angewiesen sind. Christlicher Glaube wird erst glaubwürdig im Handeln von Christinnen und Christen. Aber ohne Besinnung auf das, was Handeln erst möglich macht, auf die Kraftquelle in der Liebe Gottes zu uns (besser z.B.: - und für gläubige Menschen ist das das Vertrauen, von Gott geliebt zu werden -), verliert sich Glaube im Aktionismus. Erst wenn ich etwas bekommen habe, kann ich etwas geben.