Erfüllte Zeit

13. 03. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Im entscheidenden Moment… - Die Versuchung Jesu“ (Matthäus 4, 1 – 11)

von Helga Kohler-Spiegel

 

 

Am Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu ist von allen drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas) die „Versuchung Jesu“ überliefert. Während Markus in nur zwei Versen die Versuchung Jesu erwähnt, erzählen Matthäus und Lukas ausführlicher. Es ist ein so bekannter, so oft gedeuteter Text – verwoben mit Zitaten aus dem 5. Buch Mose, dem Buch Deuteronomium. Die Bibelworte, die Jesus zitiert, sind Mahnungen, die Mose Israel vor dem Einzug ins Gelobte Land ins Stammbuch schreibt. Diese Mahnungen sind Konsequenz der Erfahrung, dass Israel in der Wüste den Erprobungen nicht standgehalten hat – und Mose letztlich auch nicht (Num 20,12; Dtn 1,37).

 

Im Matthäus-Evangelium ist der Weg Jesu immer wieder erzählt und gedeutet auf dem Hintergrund von Mose und dem Auszug aus Ägypten. Den ersten Leserinnen und Lesern des Matthäus-Evangeliums war die Exodus-Erzählung von Kindertagen an bekannt, sie bildet immer wieder den Hintergrund zum Verstehen des Weges Jesu. Die Zitate Jesu gegenüber dem Versucher, dem Diabolos, dem Durcheinanderwirbler, stammen aus dem Kontext des Bekenntnisses Israels, des jüdischen Tagesgebets, des Sch’ema Israel: Höre Jisrael: Der EWIGE - unser G'tt, der EWIGE - einer! Und also liebe den Ewigen Deinen G'tt, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Können. (Dtn 6,4f), wie es im Jüdischen heißt, natürlich ohne dass der Name Gottes ausgesprochen wird. Damit ist klar: Das Bekenntnis, die Antwort Jesu auf die Versuchungen zielt auf Gott selbst, entschieden gilt: Der EWIGE - unser G'tt, der EWIGE - einer! Dies ist – bereits am Beginn des Evangeliums – als Aussage über Jesus von zentraler Bedeutung: Gott bleibt der Ewige, einzig. Und Jesus macht Gott sichtbar, aber Jesus bleibt Gott „gehorsam“, also hörend auf Gott, orientiert an Gott, in Beziehung mit Gott. Jesus verlässt sich auf Gott, allen Anfechtungen zum Trotz.

 

Jesus ist bei Matthäus von Beginn an sichtbar geworden als der „wahre Sohn Gottes“, als „der neue Mose“, der „alle Gerechtigkeit erfüllen will“ (3,15). Und wie verhält sich nun dieser „wahre Sohn Gottes“? Welchen Versuchungen ist Jesus am Anfang seines Weges ausgesetzt? Es ist die Versuchung der Macht, etwas Besonderes zu sein. Es ist die Versuchung, nicht wirklich Mensch sein zu wollen, sondern im Größenwahn die eigene Sterblichkeit zu leugnen. Es ist die Versuchung, Herr über alles zu sein, alles besitzen und alles bestimmen zu wollen. Es ist die Versuchung, Menschen durch religiöse Macht in Bann zu ziehen… Es ist wohl die Versuchung von Gier und Hochmut und Selbstüberschätzung, die Menschen seit jeher einschränken… Der Abschnitt endet damit, dass Jesus widerstanden hat, dass er sich den Versuchungen gestellt und sie durchgetragen hat. Er ist nicht davor zurückgeschreckt, als gäbe es diese Versuchungen in seinem Leben gar nicht, auch Jesus musste sich damit auseinandersetzen und standhalten.

 

Natürlich kann ich die Frage nicht ausblenden, wo meine „Versuchungen“ liegen, meine Korrumpierbarkeit, meine Angst, meine Verletzbarkeit, die mich agieren lässt…? Die Selbstüberschätzung und die Gier und wie sie alle heißen - meine Versuchungen? Meine Tricks, mich der Sterblichkeit nicht zu stellen? Meine Mechanismen, nicht vertrauen zu müssen, alles im Griff zu haben, mich auf niemanden verlassen zu müssen, auch auf Gott nicht… Liegt gerade darin die Versuchung, die eigenen Versuchungen nicht sehen zu wollen?

 

Im Taufversprechen bekennen Christinnen und Christen zuerst die Absage: "Ich widersage". Zuerst gilt es, den Versuchungen zu widerstehen und Neinsagen zu lernen gegen all das, was Leben behindert, was verführt, mich selbst zu überschätzen, und was mich vergessen lässt, dass ich „Geschöpf“ bin, sterblich – irgendwann. Dann kann ein Mensch Ja sagen – zu all dem, was Glück und Liebe und Leben… ausmacht.

 

Der heutige Abschnitt im Matthäusevangelium zeigt einen Weg für den Umgang mit diesen Versuchungen. Es braucht Bedingungen, sich diesen Anfechtungen zu stellen, in der Stille und außerhalb der alltäglichen Belastungen werden diese Stimmen hörbarer, die mich auf meine Verführbarkeit aufmerksam machen. Es müssen ja nicht gleich 40 Tage und 40 Nächte in der Wüste sein, diese biblische Symbolzahl, die an Veränderung, an Spurwechsel, an radikalen Wandel erinnert.

 

Und dann sind da Engel: In Ps 91, 11f heißt es: „Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie tragen dich auf ihren Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt…“ Tröstlich, Engel begleiten die Zeiten der Versuchungen.

 

Dennoch - beides gehört zu den Möglichkeiten des Menschen: Die Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen, Versuchung und Standhalten, Zuwendung oder Zerstörung. Jesus zeigt, dass es möglich ist, den Versuchungen standzuhalten. Zahlreiche Menschen nach ihm haben stand gehalten und haben der Gewalt Menschlichkeit entgegengesetzt, haben Klarheit gegen Korruption gesetzt, haben im entscheidenden Moment „nein“ gesagt, obwohl ein „Ja“ Vorteile gebracht hätte… Immer wieder haben Menschen standgehalten und sich im entscheidenden Moment für „das Gute“ entschieden.