Erfüllte Zeit

10. 04. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Tod und Auferweckung des Lazarus“ (Johannes 11, 1 – 45)
von Markus Schlagnitweit, Hochschulseelsorger in Linz

 

 

Unter allen Wundern, die von Jesus überliefert werden, klingt dieses geradezu nach Kraftmeierei: Die Rückholung eines bereits Verwesenden ins Leben! Jesus wird hier nachgerade zum Superman stilisiert, ein Wunderprotz, der einfach alles kann!

 

Aber das Evangelium ist doch kein Groschen-Roman! Also nochmals genauer hinsehen: Da heißt es etwa ganz am Anfang, dass Lazarus zunächst nur krank war. Woran mochte er wohl gelitten haben? Das wird nicht direkt gesagt. Aber vielleicht findet sich eine Antwort am anderen Ende der Erzählung. Da sagt Jesus zu den Umstehenden – wörtlich übersetzt: „Macht ihn frei und lasst ihn weggehen!“ – Möglicherweise ist diese Toten-Erweckung also eigentlich eine Befreiungsgeschichte: Sie hätte dann nicht schon im Herausrufen des Verstorbenen aus dem Grab ihre Sinnmitte, sondern das entscheidende Wort fiele erst mit der Aufforderung, Lazarus loszubinden und freizugeben. – War das vielleicht seine tödliche Krankheit: die „Belagerung“ und Fesselung durch seine Mitwelt?

 

Solche Fesseln, die einen Menschen krank machen und ersticken können, gibt es ja zuhauf: Familien etwa, in denen Eltern ihre Kinder nicht loslassen können oder umgekehrt; Partnerbeziehungen, die mehr in gegenseitiger Abhängigkeit gründen als in der freien Zuwendung der Partner; gesellschaftliche Stigmatisierungen und Vorurteile; Dauerstress in der Arbeitswelt; die Allgegenwart medialer Öffentlichkeit; oder auch die Bigotterie, Borniertheit und strukturelle Erstarrung einer alt gewordenen Kirche. – All das kann für einen Menschen zur Fessel werden, die ihm die Luft zum Atmen nimmt, den Mut zu freien Entscheidungen, die Lust am Leben.

 

Erhebt sich nun noch die Frage, kraft welcher Fähigkeit Jesus seinen Freund zu neuem Leben erwecken und befreien konnte? – Hier hilft vielleicht ein weiterer Blick an den Anfang der Erzählung – auf ein irgendwie irritierendes Detail; da steht: „Jesus liebte Marta, ihre Schwester und Lazarus. Als er hörte, dass Lazarus krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er sich aufhielt.“ – Ist das die Reaktion eines liebenden Freundes? – Der Eine wird krank gemeldet – wohl nicht ohne Erwartung eines Besuchs, aber der Andere lässt sich Zeit... – Was könnte das bedeuten?

 

Einem Ruf nicht stante pede Folge leisten – das kann zweierlei ausdrücken: Gleichgültigkeit oder – Freiheit. Nun, Gleichgültigkeit scheidet bei einem wohl aus, der doch soeben noch als liebender Freund beschrieben wird, im weiteren Verlauf sogar als ein vor Schmerz weinender Freund. Nein, Jesus bleibt nicht ungerührt von der schweren Erkrankung seines Freundes, aber: Er bleibt ein frei sich zuwendender Freund; er bleibt unabhängig von drängenden Verhaltensregeln, von Erwartungsdruck, von Verlustängsten – oder wie sie alle heißen mögen: Jene Kräfte, die menschliche Beziehungen so oft korrumpieren. Jesus geht zu seinem Freund nicht aus ängstlicher Sorge, nicht weil andere sein Kommen verlangen und erwarten. – Nein, er geht zu ihm aus freien Stücken. Diese zweitägige Wartefrist könnte einfach ein Bild sein für die freie Zuwendung, die Jesus den Seinen zu schenken pflegt – und die für mich Ausdruck der freien Zuwendung Gottes zum Menschen ist.

 

Gerade in solch freier Zuwendung aber liegt jene Kraft, die allein die vielfältigen Fesseln lösen kann, unter denen Menschen zu ersticken drohen. Es ist doch so: Jeder Mensch braucht, ja hungert fortwährend nach Zuwendung, nach Bestätigung, nach Bejahung durch einen Anderen; aber nur das Ja-Wort, das frei geschenkt wird, kann solchen Hunger wirksam stillen. Jede Abhängigkeit, jeder Zwang in persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen – und sei er noch so subtil –, jeder Versuch, einen anderen Menschen an sich zu binden oder sich an ihn – und sei es mit den besten Absichten – all das macht Beziehungen immer krank. Das in dieser biblischen Erzählung entscheidende Wort – gesprochen von einem freien Freund – lautet: „Lazarus, komm heraus!“, und zu den Umstehenden: „Lasst ihn (endlich) los und gehen!“ – Nur dort, wo wirklich Freiheit geübt wird, kann Leben sich entfalten, kann gefesseltes, kann bereits krankes und erstorbenes Leben zu neuer Freiheit und neuem Leben erstehen.

 

Lieben heißt also nicht, jemanden an sich binden – oder sich selbst an ihn. Jemanden lieben heißt vielmehr, sich ihm aus freien Stücken zuwenden, um ihn zu mehr, um ihn zu neuem Leben zu befreien. – Oder wie R. M. Rilke es einmal treffend formuliert hat:

 

Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist:
die Freiheit eines Lieben nicht vermehren
um alle Freiheit, die man in sich aufbringt.