Erfüllte Zeit

25. 04. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 


"Sie erkannten ihn, als er das Brot brach" (Lukas 24, 13-35)

von Ingeborg Gabriel
 

 

Die Emmauserzählung ist die wohl bekannteste aller Auferstehungsgeschichten - und für mich selbst auch die berührendste. Der Ort Emmaus liegt nahe bei Jerusalem. Seit meiner letzten Reise nach Israel erinnert er mich an einen wunderschönen Frühlingsspaziergang durch einen Hain mit alten Olivenbäumen.

 

Die beiden Jünger, die hier laut biblischem Bericht unterwegs sind, haben freilich dafür keine Augen. Traurig gehen sie vor sich hin. Der erhoffte Messias ist tot. Schon seit drei Tagen. Da gesellt sich einer zu ihnen - Jesus - aber sie erkennen ihn nicht. Dieses Nicht-Erkennen spielt in allen Auferstehungsgeschichten eine große Rolle. Zugleich ist es höchst eigenartig und schwer zu deuten. Wie ist das möglich? Offenkundig haben die zwei ihn ja persönlich gekannt. Sie wussten nicht nur, wer er war, sie sind Jesus auch häufig begegnet. Und nun sehen sie nur einen Fremden.

 

Der Unbekannte frägt sie, worüber sie reden. Sie erzählen ihm die Geschichte von Jesus von Nazareth, dem großen Propheten, von ihren Hoffnungen und ihrer tiefen Enttäuschung über seine Kreuzigung und seinen Tod. Freilich gab es da zuletzt einen Hoffnungsschimmer: Frauen, die zum Kreis der Jünger gehörten, und dann auch einige Jünger selbst hatten Engel am leeren Grab gesehen. Aber was sollte das schon bedeuten?

 

Jesus rügt sie etwas unvermittelt und beginnt, ihnen die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel zu deuten. Wie oft in den Evangelien erscheint Jesus hier als Lehrer, der die Schrift auslegt. Ein Jesus-Bild übrigens, das heute weitgehend abhanden gekommen ist. Diese Heilsgeschichte, die er den Jüngern auf dem Weg erklärt, hat eine klare Botschaft und ein Ziel: Musste nicht all das geschehen? Ich gestehe, dass ich mich an diesem "musste" immer gestoßen habe. Hätte es nicht auch anders kommen können? War Jesu Tod aufgrund einer Konstellation von politischen und religiösen Interessen wirklich notwendig? Die Verurteilung eines Unschuldigen unausweichlich? Da regt sich Protest, umso mehr als es eine Geschichte ist, die sich bis heute immer wieder wiederholt.

 

 Aber dieses "musste" hat einen anderen Sinn: Es gibt eine Heilsbedeutung jeder Lebensgeschichte und auch der Geschichte als Ganze. Trotz aller Widersinnigkeiten und Widerwärtigkeiten hat sie durch Jesu Tod und Auferstehung ein Ziel. Jesus - so der Originaltext - öffnet ihnen in diesem Sinn die Schrift und langsam auch die Augen - und doch erkennen sie ihn immer noch nicht.

 

Als sie in Emmaus angelangt sind, will der Unbekannte weiter gehen. Sie nötigen ihn jedoch zu bleiben, weil es schon dunkel wird. Diese Gastfreundschaft soll sich als großes Glück für sie erweisen. Was wäre gewesen - so kann man spekulieren - wenn sie ihn hätten weiter ziehen lassen? Dann wären sie dem Auferstandenen wohl nicht begegnet.

 

Im zweiten Teil der Geschichte wird nun der unbekannte Gast zum Gastgeber. Im Lukasevangelium heißt es: "Und als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen. Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn, doch auf einmal war er nicht mehr zu sehen."

 

Das Wort "erkennen" hat in der Bibel eine tiefe Bedeutung. Es kommt auch in dieser Geschichte mehrmals vor, ja ist gleichsam ihr Leitwort. Der Weg geht nicht nur von Jerusalem nach Emmaus, er geht auch vom Nicht-Erkennen zum Erkennen, von den blinden zu den sehenden Augen. "Erkennen" meint hier mehr als Verstandeserkenntnis. Es ist ein Sehen des Anderen, ein tiefes Verstehen seiner Person. Es bedarf offenbar dieser neuen Art des Sehens, einer inneren Wahrnehmung, die anders ist als die äußere, um den Auferstandenen zu erkennen.

 

Diese - man kann sagen - mystische Schau geht jedoch schnell vorbei - und wird den beiden doch ihr ganzes Leben lang präsent bleiben. Und diese Begegnung setzt sie in Bewegung. Sie machen sich trotz der gefährlichen Nachtzeit sofort auf den Weg zurück nach Jerusalem. Sie wollen den anderen berichten. Die Erkenntnis des Auferstandenen wird zum Beginn einer Verkündigung, die weiter sagt: "Er lebt".

 

Die Auferstehung bildet das Herzstück des christlichen Glaubensbekenntnisses. Eigentlich ein recht ungewöhnlicher Glaube. Der französische Philosoph Jean Luc Ferry sinniert in seiner lesenswerten Einführung in die Philosophie "Leben lernen" darüber, warum sich das Christentum in der Antike so rasch ausgebreitet hat. Was machte seine Attraktivität gegenüber der Philosophie aus? Da ist zum einen die Hilfsbereitschaft gegenüber allen, die viele überzeugte. Sie spielt ja auch in unsrer Erzählung eine wichtige Rolle. Da war aber vor allem - so Ferry - die unglaubliche Hoffnung, jene Menschen wiederzusehen, die wir geliebt haben - und nicht durch den Tod für immer von ihnen getrennt zu sein.

Und noch einen Gedanken beinhaltet diese Geschichte: Es erkennt nur der, der liebt. Auch das Erkennen Jesu in dieser Erzählung hat mit einer solchen Liebe zu tun, die nach christlicher Überzeugung den Tod überwunden hat und sich im Brechen des Brotes zeigt.

 

Den anderen erkennen und über das Grauen des Todes hinaus mit ihm oder mit ihr verbunden zu bleiben, das ist der Kern der frohen Botschaft, das große Thema des Christentums. Manchmal scheint es freilich, dass es den Christen irgendwie entglitten ist und sie sich mit Marginalem begnügen.

 

Ich meine, es wäre wert, wieder über dieses große Mysterium der Liebe nachzudenken, das über den Tod siegt, und zu überlegen, wie es zum Zentrum eines gläubigen Lebens werden kann.