Erfüllte Zeit

22. 05. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Das Gespräch über den Weg zum Vater“ (Johannes 14, 1 – 12)
von Regina Polak

 

 

„Was ist Wahrheit?“ –  Das fragt Pilatus den Jesus beim Verhör in der Johannespassion. Zuvor hat Jesus gesagt: „Ich bin gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen“. Der Machtpolitiker Pilatus ist ernüchtert und zynisch. Er weiß: Wahrheit kann verleugnet, verweigert, verzerrt werden. Also: „Was ist Wahrheit?“

„Was ist Wahrheit?“ – Das ist, so wie ich es wahrnehme, auch die Frage vieler Menschen heute in Europa. Die europäische Geschichte hat sie skeptisch werden lassen gegenüber Wahrheitsansprüchen. Im Namen religiöser und politischer Wahrheiten wurden Menschen unterdrückt und ermordet. So viel Lüge, so viel Leid, so viel Gewalt. Wie soll man da noch an eine Wahrheit glauben?

Das Evangelium, das heute in den katholischen Kirchen gelesen wird,  ist eine Ermutigung und eine Zusage, dass man Wahrheit finden kann. Jesus beschreibt, wie das möglich ist. Dazu ist es zunächst wichtig zu verstehen, wie Wahrheit in der biblischen Tradition gedacht wird. Wahrheit meint dort keine Lehre, keine Weltanschauung, keine Theorie, die man mit wissenschaftlichen Mitteln beweisen kann. Wahrheit beschreibt vielmehr Lebens-Erfahrungen.

So bedeutet das hebräische Wort für Wahrheit, die emeth, zunächst das, was ist; das, was sich als gewiss und beständig erwiesen hat. „Das, was ist“: Die Erzählungen des Alten oder Ersten Testaments, sind nahezu schonungslos in der Art, wie sie beschreiben, wozu Menschen fähig sind. Alles wird beim Namen genannt: Liebe, Freude, Versöhnung – aber auch Neid, Hass, Rache, Gewalt. Wahrheit heißt: Die Dinge beim Namen nennen. Dies ist möglich aufgrund einer Erfahrung, die ebenfalls Wahrheit genannt wird: Die Erfahrung, dass trotz aller Schuld, in allem Scheitern und Versagen, Gott seinen Menschen unverbrüchlich und treu zur Seite steht. Das hat sich für die biblischen Autoren als gewiss erwiesen. Das ist wahr. Zur Wahrheit gehören so gesehen Liebe, Treue und Gerechtigkeit.

Im Griechischen beschreibt die aletheia, das Wort für Wahrheit, eine andere Nuance. A-letheia bedeutet: Das, was sich enthüllt, was sich zeigt, was sich offenbart. Wahrheit bedeutet also: Es kommt etwas ans Licht. Das ermöglicht Erkenntnis, Weite und Freiheit.

Diese Bedeutungsdimensionen stehen wohl auch im Hintergrund dessen, was Jesus meint, wenn er sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Auch für Jesus – so wie ich ihn verstehe - ist Wahrheit in ihrem ursprünglichen Sinn keine Lehre oder Weltanschauung. Wahrheit ist vor aller Theorie eine Lebenspraxis: Die Praxis der Beziehung zu Gott und den Menschen. Wie kann man diesen Satz verstehen?

Jesus bettet die Wahrheit zwischen zwei andere Begriffe ein: Weg und Leben. Weg und Leben erschließen, wie sich Wahrheit zeigt. Das bedeutet:

Wahrheit ist ein Weg. Sie ereignet sich in einem Prozess. Wahrheit geschieht. Sie geschieht, indem man einen Weg geht. Es ist ja ein großer Unterschied, ob man einen Weg auf einer Landkarte sieht und beschreibt – oder ob man ihn selbst geht. Wahrheit zeigt sich, indem man den Weg selbst geht – Schritt für Schritt. Zum Weg gehören auch Irrwege, Pausen, Anstrengung. Manchmal sieht man nicht, wie es weitergeht.

Wahrheit ist Leben. Sie fördert das Leben. Wahrheit ereignet sich dort, wo sich Lebensmöglichkeiten mehren. Wenn Menschen freier, liebesfähiger, gerechter werden, geschieht Wahrheit.  Wahrheit meint auch das sinnerfüllte, das gute Leben. Dazu gehört auch, die unangenehmen Wahrheiten anzuerkennen.

Jesus zeigt für mich in seiner Rede, wie man solche Wahrheit leben und erkennen kann: Niemand kommt zum Vater außer durch ihn. Wer ihn sieht, sieht den Vater. ER ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Franz Rosenzweig, der große jüdische Gelehrte, der Christ werden wollte und dann doch Jude geblieben ist, hat es so ausgedrückt: „Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeuten, darüber sind wir einig: Es kommt niemand zum Vater denn durch ihn. Es kommt niemand zum Vater - anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist.“ Das Ziel des Weges und des Lebens ist also Gott. Jesus ist der Weg zu diesem Ziel. Zur Erinnerung: Im biblischen Wahrheitsverständnis geht es nicht in erster Linie darum, Glaubensbekenntnisse für richtig zu halten. Zuallererst geht es um eine Beziehung: Die Beziehung zu Gott ist das Ziel – und das schon im irdischen Leben.  Jesu Zusage lautet: Wer in Beziehung mit ihm lebt, kann das Ziel erreichen. Wer ihm nachfolgt, findet Wahrheit. Wer mit Gott und den Menschen so lebt wie Jesus, ist unterwegs zum Ziel und findet Leben. Wer versucht, das nach-zu-leben, was Jesus vor-gelebt hat, lebt untrennbar mit Gott und den Menschen verbunden. Wahrheit ist also eine Praxisfrage. Glaubensaussagen helfen dabei, auf diesem Weg der Beziehung und der Praxis die Orientierung nicht zu verlieren. Sie benennen und erschließen, was man auf diesem Weg erfahren kann. Sie ersetzen nicht die Praxis.

„Was ist Wahrheit?“ – Die Frage des Pilatus ist keine akademische Frage. Das Evangelium ist eine Zusage und eine Aufgabe: Wahrheit ist erkennbar – aber dazu muss man sie gehen.

Das ist nicht immer einfach und kann Angst machen. Jesus weiß das. Deshalb ermutigt er: Euer Herz lasse sich nicht verwirren. Glaubt an Gott, und glaubt an mich!

In diesem Glauben kann und soll jede und jeder seinen persönlichen Weg gehen. Für alle ist gesorgt, alle haben einen Platz, jetzt schon: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, hätte ich euch dann gesagt: Ich gehe, um einen Platz für euch vorzubereiten?“ Wahrheit zeigt sich plural – in der Vielfalt der Wege, die Menschen auf dem Weg zum Ziel gehen können.

Was dann möglich wird, klingt meiner Meinung nach aufregend: „Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen.“  Wer Wahrheit in diesem Sinne geht und lebt, kann vielleicht ein wirklich guter Mensch werden.