Erfüllte Zeit

29. 05. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Trostworte an die Jünger“ (Johannes 14, 15 – 21)
von Reinhold Esterbauer

 

 

Gebote haben einen schlechten Ruf. Sie werden gewöhnlich als Verbote und einschränkende Vorschriften wahrgenommen, auch wenn sie nichts verbieten, sondern zu etwas auffordern. Werden Gebote darüber hinaus als Verneinungen formuliert, steigern sie die innere Abwehr noch. Schon in den 10 Geboten, die Moses am Sinai bzw. Horeb (Ex 20, 1 - 19 und Dtn 5, 6 - 22) von Gott erhalten hat, überwiegen die Vorgaben, was man alles nicht tun dürfe: Keine anderen Götter haben, sich von Gott kein Bild machen, nicht die Ehe brechen, nicht lügen und so fort.  Da mögen die Gebote noch so wichtig sein für den rechten Gottesbezug und ein geregeltes Leben in der Gesellschaft – sie schränken ein, scheinen der eigenen Freiheit zu widersprechen und erzeugen Widerstand.

 

Anders ist es mit der Liebe. Sie hat nicht nur hohe Akzeptanz und eine gute Presse, sondern scheint geradezu das Gegenteil des Gebots zu sein. Die Liebe schränkt nicht ein, sie setzt sich über Gebote und Vorschriften hinweg und befreit von Einschränkungen und unangenehmen Grenzen. Nicht umsonst liest man im ersten Korintherbrief des Apostels Paulus, dass die Liebe alles ertrage, alles glaube, alles erhoffe und allem standhalte. Deshalb höre sie niemals auf. (1 Kor 13, 7f.)

 

Angesichts dieses Kontrastes zwischen Gebot und Liebe finde ich die vorgelesene Stelle aus dem Johannesevangelium verstörend. Dort verbindet Jesus nämlich wider Erwarten Gebot und Liebe so stark, dass sie nicht voneinander zu trennen sind. Gleich zu Beginn sagt er zu seinen Jüngern: „Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten.“ (Joh 14, 15) Aber damit noch nicht genug: Am Ende des Abschnitts bekräftigt er diese Verknüpfung und betont nochmals die Zusammengehörigkeit von Gebot und Liebe, nun in umgekehrter Reihenfolge. Hieß es am Anfang, dass die, die ihn lieben, seine Gebote halten, so betont Jesus nun, dass derjenige, der seine Gebote hält, ihn liebe. (Joh 14, 21a) Nach Jesus ist also die Liebe zu ihm das Halten seiner Gebote und das Halten seiner Gebote die Liebe zu ihm.

 

Alle, die Kinder erziehen oder denen Jugendliche anvertraut sind, kennen dieses Paradox zwischen Gebot und Liebe als das Setzen von Grenzen aus Zuneigung und Sorge. Genauso spüren umgekehrt Kinder und Jugendliche das Zugleich von Wohlwollen und den als zu eng empfundenen Vorgaben. Auch viele Glaubende empfinden diesen quälenden Widerspruch. Auf der einen Seite steht für sie das Bewusstsein von Gottes grenzenloser Liebe, und auf der anderen Seite stehen die religiösen und kirchlichen Vorschriften und Gebote.

 

Nach der heutigen Stelle aus dem Johannesevangelium gibt es auch für die Jünger Jesu keinen Weg, das Paradox aufzulösen. Auch können sie es nicht umgehen. Vielmehr müssen sie es aushalten und die durch Widersprüche auftretenden Probleme bestehen. Doch bleibt man nach Jesus dabei nicht allein. Denn Gott, so liest man im Evangelium, schickt einen Beistand, der hilft, das widersprüchliche Leben zu meistern und den Konflikten gewachsen zu sein. Es ist der Geist der Wahrheit, den Jesus verspricht. Weder das Kleinreden von Differenzen oder das Verdrängen von Konflikten noch der Rigorismus derer, die sich auf der Seite der Vorschriften wissen, oder die Arglosigkeit jener, die sich leichtfertig über alle Gebote erhaben wissen, ist Jesu Vorschlag. Er verweist vielmehr auf die Wahrheit. Das Paradoxon zwischen Gebot und Liebe lässt sich demnach nur in Wahrhaftigkeit bestehen. Gemäß den Worten Jesu helfen keine Verbiegungen der eigenen Person oder Unterdrückungsmechanismen, sondern nur die Aufrichtigkeit und der ehrliche Blick auf die Gegebenheiten.

 

Einerseits gilt: Das Gebot muss der Wirklichkeit Genüge tun. Und andererseits steht gemäß Erich Fried fest: „Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“