Erfüllte Zeit

13. 06. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Der Geist wird Zeugnis für mich ablegen“

(Johannes 15, 26 – 16, 3. 12 – 15)

von Pater Gustav Schörghofer

 

 

Wenn in Zusammenhang mit Religion von Radikalität die Rede ist, dann kann man sich auf Gewalt gefasst machen. Meist geht die Gewalt von den radikal Religiösen aus. Es könnte aber auch sein, dass radikaler Glaube dazu führt, Gewalt nicht zu tun, sondern zu erleiden. Wenn es mir mit meinem Glauben Ernst ist, muss ich als Christ bereit sein, mein Leben hinzugeben. Ich kann den Glauben nicht zwanzig- oder dreißigprozentig leben, am Sonntagvormittag und während der Woche ein bisserl in der Früh und am Abend.

 

Aber warum eigentlich nicht? Es funktioniert ja ganz gut: Ich mache meine frommen Übungen, hie und da eine Messe, bei Trauungen, Taufen und Begräbnissen gibt es dann sowieso wieder eine kräftige Portion Christentum, das genügt dann schon. Warum genügt das nicht? Weil es mir keinen Grund bietet, mich bewusst und freiwillig auf die Seite der Opfer zu stellen. Die Achtelchristen mogeln sich überall durch. Die Welt wird in Zuständigkeiten geteilt. Die Wirtschaft, die Politik, die Kultur ist für ihren eigenen Bereich zuständig, und Gott hat auch seinen eigenen. Da lasse ich ihn nun. Da wird er auch gut versorgt mit Kerzen, Räucherstäbchen und Gebeten.

 

Doch Jesus macht mir bei diesen schönen Überlegungen einen Strich durch die Rechnung. Er sendet vom Vater den Geist der Wahrheit, der Zeugnis ablegen soll. Ich soll auch Zeugnis ablegen. Wofür eigentlich? Dafür, dass Gott um den Menschen, um jeden einzelnen, bemüht ist. Er teilt sich mir mit, schenkt mir Anteil an seinem Leben. „Von dem, was mein ist, wird er nehmen und euch verkünden“, sagt Jesus. Es handelt sich nicht um Informationen, sondern ich werde in eine Lebensgemeinschaft aufgenommen. Der Vater sendet den Sohn, die Liebe zwischen beiden ist der Geist, dieser Geist wird mir geschenkt, ich werde in die Liebe Gottes aufgenommen. Ich werde in jene Liebe aufgenommen, mit der Gott einen jeden Menschen liebt. Es ist dieselbe Liebe, mit der er seinen eigenen Sohn liebt.

 

Die Radikalität des Glaubens hat also mit der Anwendung von Gewalt gar nichts zu tun. Sie verlangt ein Leben, das am Leben des dreifaltigen Gottes Maß nimmt. So wie Gott jeden Menschen mit größter Aufmerksamkeit sucht, muss ich mich auf die Suche nach dem Anderen machen. So wie Gottes Großzügigkeit keine Grenzen kennt, muss auch ich lernen, meine Möglichkeiten für die Anderen fruchtbar zu machen. Ich muss in diese Ekstase der Liebe hineinwachsen. Aber wie?

 

Im Umgang mit Kunstwerken habe ich viel gelernt. Unter anderem, dass es nicht darauf ankommt, gleich von Anfang an Sinn für hohe Qualität zu haben. Das ist gar nicht möglich. Es genügt, irgendwo anzufangen. Doch dann ist es wichtig, sich immer wieder neu über das schon Bekannte hinauszuwagen, fremde und oft befremdende Dinge genau zu betrachten, ihnen Sinn zuzumuten und sich zu bemühen, diesen Sinn zu erkennen. So ergibt sich ein Weg. Nach Jahren staune ich, wo ich stehe. Was mir am Anfang bedeutsam erschien, sehe ich nun in anderen und größeren Zusammenhängen. Vieles, was mir besonders qualitätvoll erschien, ist relativiert worden. Ich bin behutsamer im Urteil, weiß aber in der Regel, was von den Dingen zu halten ist, welches Gewicht sie haben.

 

So ist es auch im Glauben. Ich fange einfach an, bete die bekannten Gebete, lese die Bibel, bemühe mich um Freundlichkeit zu den Menschen. Dann lasse ich mich dazu verlocken, immer weiter zu gehen, mit Jesus immer weiter zu den Menschen, den Fremden, den Anderen. Ich traue auch ihrer Lebensweise Sinn zu und bemühe mich, ihn zu erkennen. So entdecke ich den Geist in vielerlei Gestalt. „Von dem, was mein ist, wird er nehmen und euch verkünden“ - das kann wirklich auf sehr unterschiedliche Weise in Erscheinung treten, denke ich mir jetzt. Radikaler Glaube hat viele Gesichter, aber nie das der Gewalt.