Erfüllte Zeit

14. 08. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Kommentar zu Matthäus 15, 21 - 28

von Franz Gmainer-Pranzl

 

 

Es könnte alles so schön sein: Eine malerische Landschaft; Leute, mit denen es nett ist; genügend Zeit, um sich ein wenig zurückzuziehen und Kraft zu sammeln; einfach den Tag genießen. Es könnte so schön sein – wäre da nicht diese Frau, die plötzlich auftaucht und stört. Sie schreit, sie jammert, sie erzählt von den gesundheitlichen Problemen ihrer Tochter. Der Mann, dem sie die Ohren anfüllt, Jesus mit Namen, würdigt sie keiner Antwort. Seine Taktik aber geht offenbar nicht auf; sie lässt sich nicht abwimmeln, sodass den anderen, die mit Jesus unterwegs sind, der Geduldsfaden reißt. „Befrei sie von ihrer Sorge, denn sie schreit hinter uns her“ (Mt 15,23b), fordern sie Jesus mit Nachdruck auf.

 

Sie schreit hinter uns her … Eine echt unangenehme Erfahrung! Wem das einmal passiert ist, dass ihm jemand hinterher schreit, spürt auch nach längerer Zeit noch, wie sehr ihm das zusetzt. Was bildet sich diese Person überhaupt ein? Ist das nicht eine gewaltige Frechheit, in aller Öffentlichkeit mir hinterher zu rufen, mich mit ihren Anliegen zu bombardieren? Alle Leute drehen sich schon um, die einen schütteln den Kopf, andere lachen, wieder andere fixieren mich und die Schreierin mit ihren Blicken. Was denken sie wohl über mich und die lästige, aufdringliche Person? Am besten ignorieren, einfach weitergehen, auch wenn mir dieser Mensch nachläuft, sich nicht abwimmeln lässt und auf meine harten, ablehnenden Bemerkungen sogar noch eine passende Antwort weiß. So wie Matthäus die Szene schildert, passiert Jesus genau das: Beinhart konfrontiert er die Frau, die ihm in den Ohren liegt, mit Aussagen, die jeden anderen beleidigen würden. Diese Frau aber lässt sich von der Kaltschnäuzigkeit Jesu nicht beeindrucken; sie weicht ihm nicht von der Ferse.

 

Und da spricht Jesus völlig unerwartet ein Wort: „Frau, dein Glaube ist groß“ (Mt 15,28). Aus dem Hick-Hack zwischen der lästigen Frau und dem genervten Rabbi wird in diesem Moment ein Zuspruch, eine Anerkennung, die überrascht und berührt. Diese Wertschätzung ist im wahrsten Sinn des Wortes heilsam: Die Tochter der Frau wird von ihrer Qual befreit. Was auf den ersten Blick wie die Auflösung einer gestellten Szene aussieht, als hätte sich Jesus mit der Frau nur zum Schein einen Schlagabtausch geliefert, ist eine befreiungstheologische Urerfahrung: Der Schrei der Armen durchbricht die eingespielten Gewohnheiten, die theologischen Erklärungsmuster, die religiösen Selbstverständlichkeiten und die üblichen Rollenzuweisungen. Der Schrei der Armen ist peinlich, störend und irritierend. Der Schrei der Armen macht eine Realität sichtbar und hörbar, mit der so viele lieber nichts zu tun haben wollen: Ausgrenzung, Leid, Krankheit und Entbehrung. Wen aber interessiert das schon? Wer kann das überhaupt noch hören?

 

Vom Gott Israels heißt es, dass er auf die Klage der Unterdrückten und den Notschrei des Armen hört. Ihm ist es nicht zu lästig, dass Menschen „hinter ihm her schreien“ und ihn mit ihren Anliegen bedrängen. Wer diesen Gott finden will, wer seine Botschaft hören will, begegnet ihm in den Armen, die mit ihrem Schreien immer wieder stören und die gewohnten Abläufe durchbrechen. Es kann ziemlich mühsam und aufreibend sein, sich auf sie einzulassen; aber in dieser Hinwendung und Zuwendung eröffnet sich genau das, was damals im Gebiet von Tyrus und Sidon wirksam wurde: Ein großer Glaube und die Erfahrung von Befreiung.