Erfüllte Zeit

28. 08. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Matthäus 16, 21 – 27
von Regina Polak

 

 

1941: Abbé Henri Kremer, ein katholischer Pfarrer aus Luxemburg, ist im nationalsozialistischen Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Er gehört zu den führenden Köpfen des katholischen Widerstandes gegen das NS-Regime. Kremer wird für neun Tage aus dem Konzentrationslager entlassen. Er soll seinen Vorgesetzten, Bischof Philipp, dazu bewegen, mit der deutschen Besatzungsmacht zu kooperieren. Dafür wird ihm die Freiheit versprochen. Sollte er fliehen, droht man ihm mit der Ermordung seiner Priesterkollegen im Pfarrerblock des Lagers. Auch Kremers Familie wird unter Druck gesetzt. Abbé Kremer ist in einer unerträglichen Situation. Er fürchtet um sein Leben. Er hat Angst um seine Familie und seine Kollegen. Zugleich hat er das menschenzerstörerische Wesen des Nationalsozialismus erkannt. Er weiß, dass die Kirche mit diesem Regime nicht kooperieren darf. Tagelang ringt Kremer um eine Entscheidung – und widersteht der Versuchung. Am neunten Tag kehrt er in das Lager zurück. Er wird die Nationalsozialisten nicht unterstützen.

 

Volker Schlöndorf zeigt in seinem 2004 erschienen Film „Der neunte Tag“, wie Abbé Kremer eine lebensgefährliche Entscheidung fällt. Der Film beruht auf den autobiographischen Aufzeichnungen „Pfarrerblock 25487“ des katholischen Priesters Jean Bernard über seinen Aufenthalt als Häftling im Pfarrerblock Dachau. Dort waren 2720 Geistliche aus verschiedenen Konfessionen inhaftiert und 1034 sind im Lager umgekommen. Film und Buch zeigen, wie Jean Bernard alias Abbé Kremer eine Entscheidung trifft – getragen von tiefem Glauben. Er nimmt sein Kreuz auf sich. Gar nicht heroisch oder pathetisch, sondern in einem Prozess einsamen, inneren Ringens, voller Fragen, Zweifel und Ängste. Doch nie bricht er dabei die Beziehung zu Gott ab – auch wenn dieser schweigt.

 

 „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“, sagt Jesus im Matthäusevangelium. Eine christliche Lebenspraxis kann lebensgefährlich werden. Die Biographien vieler Christinnen und Christen in Geschichte und Gegenwart bezeugen dies. Bis vor noch nicht so langer Zeit hat auch in Europa Christ-Sein einen hohen Preis gehabt. Denken Sie an das kommunistische Europa: Viele orthodoxe, protestantische, katholische Christen wurden aufgrund ihres Glaubens und ihres darauf gründenden Widerstands gegen die  Staatsmacht benachteiligt, unterdrückt oder gar ermordet.

 

Welche Relevanz haben solche Erinnerungen heute, im freien, friedlichen und reichen Europa? Ergibt das Wort Jesu von Selbstverleugnung und Kreuz-Tragen da überhaupt noch Sinn?

 

Immerhin ist aus der Geschichte des Christentums auch der moralische und psychische Druck bekannt, den man Menschen im Namen dieses Jesus-Wortes bereiten kann: Unerträgliche Lebenssituationen, Unrecht und Ungerechtigkeit zu erdulden ohne den nötigen Widerstand leisten zu dürfen. Selbstverleugnung als Selbstaufgabe. Das Wort Jesu wurde auch missbraucht.

 

Ich warne deshalb davor, diesen Auftrag als Appell zu verstehen, sich selbst aufgeben und jede Art von Leid aushalten zu müssen. Immer ist die Art und Ursache des Leidens zu prüfen, denn es gibt Leid, das man beheben und erleichtern kann und muss. Als Christin bin ich zuerst aufgefordert, anderen das Kreuz zu erleichtern und abzunehmen. Das Kreuz auf sich zu nehmen ist kein spiritueller Selbstzweck. Zuerst ist es wichtig, dass ich prüfe: Worum willen nimmt jemand das Kreuz auf sich? Worum willen soll oder will ich Schweres auf mich nehmen?

 

Ich lese das Wort vom Kreuz-Tragen im Kontext der Lebens- und Leidensgeschichte Jesu. Erst der Blick auf die ganze Lebensgestalt, wie sie in der Bibel überliefert ist, erschließt mir, wie man mit diesem Auftrag verantwortet umgehen kann. Ebenso zeigen mir Biographien wie die von Pater Bernard, wie es zu solcher Entscheidung kommt. Sie folgen einer inneren Logik. Jesus und seine Glaubensnachfolger sind der Überzeugung, dass die Liebe zu Gott und den Menschen und die Sorge um Gerechtigkeit in der Welt die entscheidenden Maßstäbe für Lebensentscheidungen sind. Sie hoffen, dass Gottes Liebe und Gerechtigkeit stärker sind als alle widrigen und bösen Mächte dieser Welt. Am Beispiel dieser Leben sehe ich, dass es Lebenssituationen gibt, in denen ich um Gottes und der Menschen willen das Kreuz auf mich nehmen und mich selbst riskieren „muss“ – weil ich gar nicht anders kann. Dieses „müssen“ ist daher nicht ethisch-appellativ zu verordnen. Ein solches „Müssen“ ist Folge einer zutiefst persönlichen Entscheidung, die nur in Freiheit erfolgen kann. Wer sich dann so entscheidet, entscheidet sich nicht primär für Leid oder gar Tod, sondern für das, was menschliches Leben auszeichnet: Für die Freiheit des Gewissens, für eine Welt größerer Gerechtigkeit, für die Liebe zu Anderen. Leid kann eine Konsequenz sein. Ermöglicht und getragen wird eine solche Entscheidung von einer intensiven und tiefen Gottesbeziehung. Diese muss keinesfalls immer nur voll von Vertrauen und Hoffnung sein – Ohnmacht, Fragen, Zweifel, das steht in vielen derartigen Lebensberichten zu lesen, gehören in solch schweren Situationen dazu. Doch diese sind eingebettet in die Auseinandersetzung und Begegnung mit Gott. Selbstverleugnung ist genau genommen Selbsthingabe. Davon erzählt mir das Leben Jesu. Davon erzählen mir die Leben von Pater Bernard und vieler anderer mutiger Christinnen und Christen.

 

Gibt es auch heute in Europa Lebensbedingungen und Lebenssituationen, für deren Humanisierung mein Einsatz so nötig ist, dass ich auch die damit verbundenen Schwierigkeiten auf mich nehmen kann? Wie steht es um meinen Widerstand gegen menschenfeindliche Lebensbedingungen – begründet durch Armut, Fremdengesetzgebung oder konsumistische Lebensstile, die die Ressourcen der Welt ausbeuten? Wie steht es um meine Bereitschaft, um des Wohles anderer Menschen willen, Schweres auf mich zu nehmen? Wie steht es um meine dafür nötige Gottesbeziehung?