Erfüllte Zeit

11. 09. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Matthäus 18, 21 - 35

von Dr. Arnold Mettnitzer

 

 

Nicht nur sieben Mal, sondern siebenundsiebzig Mal zu verzeihen, das scheint in den letzten 100 Jahren besser von der Psychotherapie als von der kirchlichen Seelsorge verstanden worden zu sein.

 

Nicht Richtersprüche, sondern Hebammendienste tun der verletzten Seele gut! Und so geht die Psychotherapie davon aus, dass es sich lohnt, einem einzigen Menschen Aufmerksamkeit über lange Zeit hindurch zu schenken: Wochen, Monate und Jahre kann es dauern, bis sich artikulieren lässt, woran die Seele krankt.

 

Im ersten Testament war der Tempel der Ort, an dem selbst ein Blutschänder geschützt werden musste, sofern er mit seinen Händen die Flanken des Altars umfängt. Der Mensch in seiner Unverwechselbarkeit ist also geschützt, es kommt ihm ein Wert an sich zu, der unabhängig von der Summe seiner Taten respektiert werden muss.

 

Unzählige Stellen im Neuen Testament belegen die individuelle und ausschließliche Zuwendung Jesu einem Einzelnen gegenüber:

 

Das biblische Bild vom guten Hirten skizziert die Konzeption einer nachgehenden Seelsorge, die die Herde für eine Zeit verlässt, um einem einzigen Schaf nachzugehen.

 

Das Suchen, das Tragen des Verlorenen ist das „therapeutische Programm“ des Jesus aus Nazareth.

 

In der Psychotherapie ist das Zurückstellen persönlicher Wertungen seitens des Therapeuten die Arbeitsvoraussetzung: Der Patient wird nicht dirigiert, nicht manipuliert, nicht normiert, nicht dogmatisiert, sondern einzig und allein und bedingungslos akzeptiert.

 

Ausgangspunkt ist die (freilich unbeweisbare) Überzeugung, dass die Wahrheit des Menschen sich nicht moralisch beschreiben lässt. Die gesellschaftlichen und ethischen Standards sind ungeeignet zu wirklicher Hilfe, sie spiegeln bestenfalls die Symptome der Not eines Menschen. Die Frage lautet daher nicht: „Was muss ich tun? Was erwarten die Anderen von mir?“ Die Frage kann einzig und allein nur lauten: „Was geht in mir vor?“

 

Karl Rahner hat das so formuliert: „Wir müssen dem Menschen von heute wenigstens einmal den Anfang des Weges zeigen, der ihn glaubwürdig und konkret in die Freiheit Gottes führt. Wo der Mensch die Erfahrung Gottes und seines aus der tiefsten Lebensangst und der Schuld befreienden Geistes auch anfanghaft gemacht hat, brauchen wir ihm die sittlichen Normen des Christentums nicht zu verkündigen...“

 

Der bibeltheologische Befund zeigt z. B. bei Markus 2, 1 - 12, wie ein Gelähmter zu Jesus gebracht und durchs Dach zu ihm hinuntergelassen wird. Das erste Wort, das Jesus zu ihm sagt, lautet: „Deine Sünden sind dir vergeben!“ - Einfach so, ohne Diagnose, ohne Nachfrage, einfach auf den Kopf zu als Auftakt eines Miteinanders und als Voraussetzung folgender Heilung. Egal, was war, und gleichgültig, was geschehen wird: Es ist die Begegnung der Moment der Vergebung jenseits allen moralischen Richtens und Wertens. Wo jemand am Boden liegt, hilft kein „du sollst!“, sondern einzig und allein der Primat der Gnade: So steht dem Verbrechen das Verzeihen gegenüber, der Gewalt die Güte und dem Hass die Liebe.

 

Nicht Richtersprüche, sondern Hebammendienste tun der verletzten Seele gut!