Erfüllte Zeit

25. 09. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Matthäus 21, 28 – 32
von Martin Stowasser

 

 

Als ich meine Tochter vor einiger Zeit fragte, warum sie am Sonntag nicht mit in den Gottesdienst kommen wolle, antwortete sie: „Dort hört man doch immer das Gleiche, nur halt ein bisserl anders“. Und in der Tat, trifft das hier nicht auf Matthäus zu? Da gibt es zwei Söhne. Der eine ist ein Jasager, tut aber nicht, was er zugesagt hat, der andere widersetzt sich der Aufforderung zunächst, geht aber dann doch und setzt sie um. Die Moral der Geschicht’ ist denkbar einfach: Tun ist besser als Reden. Der moralische Fingerzeig ist zeitlos und dem Gespür meiner Tochter nach wohl zu Recht „immer das Gleiche“.

 

Aber geht es tatsächlich um die einfache moralische Pointe: Besser Handeln als Reden? Matthäus hat dieses ursprünglich sehr wahrscheinlich selbständige Gleichnis ja in ein Streitgespräch hineinverpackt, in dem über die Vollmacht Jesu diskutiert wird. „Mit welcher Vollmacht tust du das?“, fragen Hohepriester und Älteste, also die damalige religiöse Führungselite Israels. Schließlich hat dieser Jesus kurz davor die Händler aus dem Tempel vertrieben und – wie Matthäus übrigens als einziger berichtet – dann dort auch noch Lahme und Blinde geheilt. Damit aber hat der Evangelist die moralische Ebene verlassen und ein völlig neues Thema eingeführt. Ins Zentrum rückt der Glaube als grundsätzliche Entscheidung für oder gegen Jesu Botschaft vom anbrechenden Reich Gottes. Ihre Verstocktheit dem Wort Gottes gegenüber haben Hohepriester und Älteste überdies bereits bei Johannes dem Täufer gezeigt und ihm ebenfalls „nicht geglaubt“. Sie scheinen, so legen die biblischen Erzählungen nahe, ein hoffnungsloser Fall zu sein.

 

Worin bestehen nun die Pointe und die Verbindung zwischen dem Streitgespräch mit der jüdischen Elite und dem Gleichnis von den zwei unterschiedlich agierenden Söhnen? Das ist nicht leicht zu beantworten.

 

Für manche rechnet der jüdische Autor des Matthäus-Evangeliums hier mit dem Israel seiner Tage wegen dessen Unglauben ab. Sie vermuten hinter der jüdischen Elite alle Juden, die vom enttäuschten Matthäus gänzlich negativ gezeichnet werden. Vereinen also Hohepriester und Schriftgelehrte das Negative beider Kinder: Sie sagen Nein und bleiben auch dabei? Denn aus dem „Vorsprung“ der Zöllner und Huren hinein ins Gottesreich wird im Abschlussvers der exklusive Gegensatz von Glauben und Nicht-Glauben: „Johannes ist gekommen, um euch den Weg der Gerechtigkeit zu zeigen, und ihr habt ihm nicht geglaubt; aber die Zöllner und die Huren haben ihm geglaubt. Ihr habt es gesehen, und doch habt ihr nicht bereut und ihm nicht geglaubt.“ – Hat Matthäus im ausgehenden 1. Jh., als er sein Buch schrieb, mit Israel abgeschlossen und keine Hoffnung mehr, Juden zu überzeugen, dass Jesus der Messias war? Große Theologen, wie Johannes Chrysostomus oder Thomas von Aquin, haben diese Linie noch verstärkt und zu einer heilsgeschichtlichen ausgezogen: Sie haben im ersten Sohn, der „Ja“ sagt und „Nein“ tut, das Israel des Gesetzes, also in ihren Augen das Judentum schlechthin, gesehen, im zweiten Sohn die Heiden, die sich am Ende doch zum Messias Israels bekehrten, also „Nein“ sagen und „Ja“ tun.

 

Eine heilsgeschichtliche Ablöse Israels durch eine Heidenkirche schwingt für Matthäus bei den zwei Söhnen sicher nicht mit. Die Zöllner und Dirnen sind für den Juden Matthäus ebensolche Juden wie die Hohepriester und Schriftgelehrten. Aber dass er angesichts des Unglaubens an Jesus als Messias an eine Spaltung denkt, die durch Israel selbst geht, ist nicht auszuschließen.

 

In einem Gleichnis findet sich das Wichtige immer am Schluss. Am Ende steht das Kind, das trotz eines anfänglichen Neins dann doch Ja sagt. Besitzt das Gleichnis eventuell ein Gefälle, und der Horizont des Matthäus ist gar nicht düster, sondern werbend? Soll die jüdische Elite bewogen werden, doch noch umzukehren, obwohl sie bereits zweimal Nein gesagt, also sich Gottes Botschaft durch Johannes den Täufer und durch Jesus verweigert hat? Vielleicht soll der zweite Sohn als Beispiel dienen und Mut machen, ein anfängliches Nein in ein Ja zu verwandeln!

 

Die Pointe der matthäischen Kombination aus Gleichnis und Streitgespräch ist nicht einfach festzumachen. Ein grundsätzlicher und nicht mehr nur auf Juden zielender Appell zu glauben, ist unüberhörbar, ebenso aber schwingt der mahnende, moralische Appell des Gleichnisses von den zwei Söhnen auch im neuen Kontext weiterhin mit. Zeitlose Wahrheiten wie „Tun ist besser als Reden“ hatte Matthäus allerdings nicht im Sinn. Der Horizont ist für ihn ernster, da die Teilnahme oder nicht Teilnahme am, wie man damals überzeugt war, bald anbrechenden Reich Gottes auf dem Spiel steht. Das Kriterium dafür bildet ein tätiger Glaube. Keinesfalls erschöpft er sich im Ja-Sagen, dem keine Praxis der Nächstenliebe folgt. „Nicht jeder, der zu mir sagt: ‚Herr, Herr’, wird in das Himmelreich kommen, sondern wer den Willen meines Vaters tut!“ – so heißt es bereits einige Kapitel zuvor in der Bergpredigt des Matthäus (Mt 7,21). Das erste Kind sagt wörtlich „Ja, Herr“, spricht also exakt dieses Bekenntnis zu Jesus Christus als dem „Herrn“ aus, lässt jedoch keine Praxis der Nächstenliebe folgen. Das Phänomen von Unglaube und Gleichgültigkeit der Botschaft des Evangeliums gegenüber im Israel seiner Tage hat Matthäus tief bedrückt, aber ein konsequenzenloses Sonntagschristentum mancher seiner Glaubensgenossen, so meine ich, noch viel mehr. In der Tat schon bisschen „Immer das Gleiche“; da geb’ ich meiner Tochter Recht.