Erfüllte Zeit

02. 10. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Lukas 18, 28 – 30
von Wolfgang Olschbaur, Bregenz

 

 

Der Text wirft viele Fragen auf. Da ist einmal der Lohngedanke. Protestanten haben etwas gegen Werkgerechtigkeit. Humanisten verabscheuen eine Haltung, die das Gute aus Berechnung und nicht um seiner selbst willen tut. Ich stoße mich am "Wenn-Dann-Schema": Wenn du bereit bist zu geben, dann kriegst du was dafür...  Ewiges Leben, so wie ich es verstehe, ist nicht der Lohn der Nachfolge sondern die Konsequenz, die sich ergibt, wenn sich jemand auf die Botschaft des Evangeliums einlässt.

 

Und dann ist da der "Graben der Geschichte". Die Gruppe um Jesus von Nazareth hatte als besonderes Kennzeichen die Besitzlosigkeit. Seine Freunde "verließen alles und folgten ihm nach", aber nicht aus Pathos, sondern weil das selbstverständliche Voraussetzung war für die Teilnahme an der nomadischen Lebensform ihres Vorbildes, das für sie zum Christus, zum Messias, geworden ist. 

 

Aber schon in den ersten Gemeinden gab es Leute, die weder ihren Besitz noch ihre familiäre Bindung aufgeben mussten, um als Christenmenschen voll anerkannt zu werden. Paulus würde es "Charisma" nennen, eine besonderen Begabung, wenn jemand - aus Glaubensgründen - radikal auf alles verzichtet. Den vielen anderen aber kann und soll man den völligen Verzicht von dem, woran sie hängen, nicht zumuten.

 

Was mich besonders an dem Text berührt, ist, dass er zum Verlassen von Ehepartner, Familie und Besitz aufruft. Und das um Gottes Willen!

 

Viele Menschen gehen fort, geben auf, ziehen sich zurück, manche verlassen auch ihre Familien, ihre Gefährten. Aber wer tut das aus Glaubensgründen? Jugendliche Aussteiger geraten in religiöse Bewegungen und werden genötigt, alle Beziehungen abzubrechen, übergeben sich ihren neuen "Schwestern und Brüdern" - und das Sparbuch dem Guru. Erwachsen Wirkende verfallen ihrem Egoismus und brechen mit allem, weil sie behaupten, sich selbst gefunden zu haben.

 

Da fällt mir die Geschichte von Nikolaus von der Flüe ein. Er lebte in der Nähe von Luzern und war ein Bauer. Er war tapfer und setzte sich mutig für die Rechte anderer Menschen ein. Eines Tages resignierte er. Er sah mit einem Mal die Sünde der Welt und wie alle Menschen mit Beulen am Herzen herum liefen. Seine Familie wurde ihm lästig. Es trieb ihn das Bibelwort um: "Wer nicht absagt allem, was er hat, kann nicht mein Jünger sein."

 

Nikolaus aber war mit Dorothea verheiratet. Sie hatten zehn Kinder. Und in langen und ernsten Gesprächen gab er seiner Frau bekannt, dass er sie verlassen müsse, weil Gott ihn ruft. Seine Frau war bestürzt und nicht bereit, auf den Mann und Vater ihrer Kinder zu verzichten. Sie sprach von versprochener Treue, flehte und weinte. Aber weil der Mann von seiner Vision nicht abkam, musste sie sich fügen.

 

Er wurde Einsiedler und nannte sich hinfort "Bruder Klaus". Menschen kamen in seine Hütte, er tröstete sie und wurde später heiliggesprochen. Die Geschichten um ihn machten sich selbstständig. In den alten Berichten hieß es noch, dass viele Leute Angst vor ihm hatten und dass seine Visionen ihm arg zusetzten. Sein Ausbrechen scheint zwar gedeckt zu sein durch das Bibelwort. Aber die Frage bleibt doch: Was ist mit der Frau und den Kindern, die zurückgeblieben sind, die herhalten mussten, damit der Mann und Vater zum Heiligen werden konnte?

 

Das Evangelium des heutigen Sonntags kann man gründlich missverstehen. Ich glaube, es geht nicht um Verzicht und Opfer, nicht um Verdienst und Lohn und auch nicht um das Auflösen von Verbindlichkeiten. Ich verstehe es als eine Einladung zum Leben, als Ruf in die achtsame Nähe von Menschen und nicht von ihnen fort. Es geht um die Einsicht, dass menschliche Beziehungen kein Eigentum sind, die man beliebig zur Disposition stellen darf. Letztlich geht es um Befreiung, um Erleichterung, um Loslassen dürfen, weil eben nicht alles von mir alleine abhängt. Es hilft mir zu erkennen, dass niemand sein eigenes Leben festhalten kann. Loslassen ist schön! Und ich kann mich darauf verlassen, dass ich nicht verlassen bin und dass mir das Leben in Fülle geschenkt wird von dem, der es geschaffen hat.