Erfüllte Zeit

16. 10. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Matthäus 22, 15 – 21
von Regina Polak

 

 

„Ist es erlaubt, dem Kaiser eine Steuer zu zahlen oder nicht?“ Die Frage der Pharisäer an Jesus von Nazareth, wie sie das Matthäus- und auch das Markusevangelium überliefern, ist eine Falle und sie ist heuchlerisch: Denn die Fragesteller zahlen ja bereits. Im Jahr 6 nach Christus wurde der Zensus, die römische Kopf- und Grundsteuer, auch in Judäa und Samaria eingeführt. Zur Zeit Jesu trug der römische Denar das Bild des Kaisers Tiberius und die Aufschrift: „Tiberius, Cäsar, des göttlichen Augustus Sohn“. Für das jüdische Volk ist dies und die politische Situation eine doppelte Provokation: Die römische Besatzung belastet das Volk wirtschaftlich und politisch; jüdische Gruppen wie die Zeloten bekämpfen sie vehement. Zugleich ist die Vergöttlichung eines Menschen, und sei es ein Kaiser, ein Verstoß gegen den Glauben, dass nur Gott göttlich und er allein zu verehren ist. So sitzt Jesus zweifach in der Falle: Bejaht er die Frage, würde er vielen als Verräter an Gott und am Volk erscheinen. Verneint er sie, kann man Jesus als Aufrührer bei den Römern verklagen. Die Frage der Pharisäer zielt also darauf, Jesus entweder der römischen Justiz oder dem Zorn des Volkes auszuliefern. Sie ist durchdrungen von politischen Interessen – auch wenn sie als theologische Frage erscheint.

 

Jesus entzieht sich dieser einengenden Logik durch die paradoxe Logik des Evangeliums:

 

Er zeigt, dass es auch in verfahrenen Situationen nie nur zwei Alternativen – ja oder nein - gibt, sondern immer noch ein dritter Weg gesucht und gefunden werden kann. Er verwandelt eine politische Frage in eine spirituelle Antwort. Seine Antwort wirft freilich - wie jedes geistliche Wort - neue Fragen auf: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört und Gott, was Gott gehört“: Was bedeutet denn das in dieser Situation konkret? Jesus nimmt den Zuhörenden nicht das Denken ab, sie müssen nun selbst überlegen, was sie tun sollen. Er spielt die Frage an die Fragenden zurück und nimmt sie in die Verantwortung. Nun gilt es zu unterscheiden, was dem Kaiser und was Gott gehört. Damit ist der politische Kontext der Situation, die das Evangelium hier schildert, also keinesfalls negiert, er wird aber aus einer anderen Perspektive betrachtet. Zwischen der politischen und der göttlichen Sphäre ist klar zu unterscheiden, die beiden dürfen nicht vermischt werden. Der Gehorsam Gott gegenüber hat Vorrang, das wissen in diesem Kontext alle, die zuhören. Der politischen Wirklichkeit gegenüber besteht allerdings auch eine Verantwortung, sie wird nicht negiert oder abgetrennt. Es ist aber eben nur eine irdische, eine begrenzte.

 

Die Antwort Jesu ist nach meinem Verständnis hochaktuell. Die gegenwärtige wirtschaftliche und politische Situation – weltweit und in Europa – ist freilich nur sehr bedingt mit der Situation im Imperium Romanum zu vergleichen. Gleichwohl finden sich viele Menschen angesichts undurchsichtiger, fragiler Finanzmärkte und wirtschaftlicher und politischer Machtballungen in einer Situation, die sie als unterdrückend, bedrohlich und unfrei erleben. Viele fühlen sich als Rädchen in einem Getriebe, dem sie dienen müssen und das ihr Leben bedroht. Einen gemeinsam geteilten religiösen Horizont, auf den man sich beziehen könnte und von dem her eindeutige Orientierung oder gar einfache Lösungen zu erwarten sind, gibt es nicht mehr. Die Fragen sind aber bedrängend: Wie können die wirtschaftlichen und politischen Strukturen so verändert werden, dass das Wirtschaftssystem nicht kollabiert? Was tun wir, wenn das geschieht?

 

„Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört und Gott, was Gott gehört.“ Das Wort des Jesus von Nazareth gibt hier keine eindeutige Antwort für unsere schwierige Zeit. Nachdenken und entscheiden müssen die Menschen schon selbst: Jeder und jede an dem Platz, wo er und sie Verantwortung trägt – als Bürger und Bürgerin, als Politiker oder Unternehmerin, ob religiös oder nicht religiös. Aber es gibt Hinweise: Es gibt eine dritte Alternative zum „Weitermachen wie bisher“ oder der Möglichkeit, dass „alles zusammenbricht“, wie ich es dieser Tage oft höre. Sie kann gesucht und gefunden werden. Jeder ist verantwortlich, seinen Beitrag zur Problemlösung zu suchen und seine politische Verantwortung wahrzunehmen. Niemand muss vor den gegenwärtigen Schwierigkeiten wie das Kaninchen vor der Schlange erstarren: Es sind kaiserliche, nicht göttliche Mächte, mit denen wir konfrontiert sind. Es braucht aber wohl einen höheren - wenn ich das so sagen darf – „Wert“, an dem man sich orientiert: Das kann das menschliche Gemeinwohl, die soziale Gerechtigkeit, die Humanität sein. Die biblische Option ist die Orientierung an Gott, die eine Prioritätensetzung erlaubt. Wer die irdischen Gegebenheiten – Politik, Wirtschaft – als zweitranging (und das heißt nicht nebensächlich!) betrachtet, wird dadurch frei, sie kreativer zu gestalten und sich nicht schicksalshaft in politische oder ökonomische Zwänge und Mächte zu ergeben. Das Wort Jesu fördert dabei, wie ich meine, nicht Weltfremdheit, im Gegenteil. Es hilft vielmehr, die irdischen Mächte vom „Wesentlichen“ zu unterscheiden – und ermöglicht gelasseneres Handeln im Irdischen. So kann ich auch den Fallen der Gegenwart entkommen und freier werden. Das konkret durchzubuchstabieren, bleibt schwierig genug. Aber eine geistliche Orientierung eröffnet neue Freiheiten kann manche neue Freiheit eröffnen.