Erfüllte Zeit

23. 10. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Matthäus 22, 34 - 40

von Prof. Dr. Josef Schultes

 

 

An zwei Geboten hängt also alles. Erstens an der Gottesliebe und zweitens an der Nächstenliebe. So schlicht und einfach in mancher Predigt. Womit sie aber drittens auch schon unter die Kanzel gefallen ist: sie, die Selbstliebe. Woher kommt diese Schmalspur, die mit viel Dampf im Kirchentakt fährt? Sicher nicht aus der Bibel. Denn da stehen sie, die berühmten drei Worte – „wie dich selbst“. Dem griechisch schreibenden Matthäus reichen zwei: hos seauton. Nur ein einziges Wort, kamoka, im hebräischen Text. Seit Kindertagen hat Jesus ihn gelernt, in- und auswendig, diesen kurzen Satz aus dem Buch Levitikus, wieder drei wesentliche Worte: ahabta lereaka kamoka. Ganz exakt übersetzt heißt das: „Schenken-wirst-du-Liebe deinem-Nächsten wie-dir-selbst“ (Lev 19,18b).

 

„Dir selbst schenke Liebe“: Wer wird diese Botschaft als christliche Werbung plakatieren, vielleicht sogar auf Kirchenmauern? „Lerne, dich selbst zu lieben“: Welcher katholische Katechismus wird diesem Imperativ eine Überschrift widmen, vielleicht sogar ein ganzes Kapitel? „Du sollst dich selbst lieben“: Wem wird das als goldene Regel für ein gelingendes Leben einfallen, vielleicht sogar noch vor den Zehn Geboten?

 

Zugegeben, Selbstliebe hat zwei nahe Schwestern: die Selbstverliebtheit und die Selbstbespiegelung. Sie hat auch zwei enge Brüder: den Egoismus und den Stolz, der wieder mit der Dummheit verwandt ist. Zweifellos, Selbstliebe kann entarten und verkommen, die Gefahr besteht. Apropos, Gefahr: die meisten Menschen sterben im Bett – aber deswegen nicht mehr schlafen gehen?!

 

„Selbstliebe als Lebenskunst“, heißt das heuer erschienene Buch von Siegfried Essen, dem Grazer Familientherapeuten. Er gibt darin Impulse zum Entfalten von Kreativität und Herzenskraft. Er lädt dazu ein, der eigenen Herkunft nachzugehen, die eigenen Wurzeln wahrzunehmen.

 

„Selbstliebe als Lebenskunst“: Kunst kommt von Können. Leben können, lieben können. Mich selbst lieben können: das verdanke ich meiner Mutter, die mich geboren, geliebt und umsorgt hat. Ich kann fest zu mir und in mir stehen, weil da ein Vater gewesen ist, der mich froh in seinen Armen gewiegt hat, ein Jahr nach Kriegsende. Urvertrauen habe ich gelernt, damals, in den Tagen meiner frühen Kindheit. Geborgenheit habe ich erfahren auf einem Bauernhof, ein paar Schritte nur bis zu den Wiesen und Äckern. Glauben habe ich gelernt in einer Familie, die am Morgen, zu Mittag und am Abend das „Vater unser“ gebetet hat, wenn alle um den Esstisch gesessen sind.

 

Wie hat Jesus glauben gelernt? Eine kleine Frage, die viele wichtige nach sich zieht. Mirjam, adonai-bewusste junge Frau aus Galiläa: Was hat sie ihr Kind gelehrt, wie es wachsen und reifen lassen? Josef, david-stämmiger Handwerker aus Nazaret: Was haben er und sein Sohn erlebt in gemeinsamer Arbeit am Bau und zu Hause, im Familienalltag? Wie oft konnten sie nach Jerusalem pilgern, zum Tempel des Ewigen, an einem Wallfahrtsfest wie Pesach etwa? Sind sie am Schabbat miteinander nach Kafarnaum gegangen, um dort in der Synagoge das Schma, das Höre Israel, zu beten? In diesem Credo, dieser Glaubens-Mitte, steht ja geschrieben: „So liebe Ihn denn, den Einen, mit all deinem Herzen, mit all deiner Seele, mit all deiner Macht“ (Dtn 6,5). Das „große Gebot“ (Mt 22,36), wie es Martin Buber und Franz Rosenzweig übertragen haben.

 

Zum Schluss noch eine kleine Übung. Heute vor oder nach dem Frühstück: in den Spiegel schauen und „Ich liebe mich“ sagen. Leichte Steigerung: dabei lächeln! Und für die Ehrgeizigen: „Ich liebe mich so wie ich bin – von Herzen“!