Erfüllte Zeit

30. 10. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Matthäus 23, 1 - 12

von Prof. Dr. Josef Schultes

 

 

Kennen Sie den Ausdruck „Haberer“? Als ich noch in Wien wohnte, bekam ich oft auch „Hawara“ zu hören oder „verhawert sein“, und manchmal wurde mir jemand als „mein Habschi“ vorgestellt. Jiddische Ausdrücke, die alle auf chaber, das hebräische Wort für „Freund“, zurückgehen. Warum ich das erzähle? Weil sich die Pharisäer untereinander chaberim nannten, „Freunde“, „Weggefährten“, „Genossen“. „Genossinnen“ gab’s natürlich noch keine, im Alten Orient…

 

Die Pharisäer trafen sich also in Männer-Genossenschaften, mehr oder minder straff organisiert. Anders als die Priester-Aristokratie der Sadduzäer, die den Hohen Rat dominierten, waren die Pharisäer Laien, sie standen dem Volk, den einfachen Leuten nahe. Im Jahre 70 n.Chr. eroberten die Römer Jerusalem und zerstörten den Tempel samt seinem Kult. Von da an waren die Pharisäer die führende Gruppe, erst seit damals spricht man von Rabbinen, bzw. vom rabbinischen Judentum.

 

„Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen“ (V.8a): Diesen Satz, das ergibt sich daraus recht logisch, den Satz kann Jesus so nicht selbst gesagt haben. Denn zu seiner Zeit ist der Titel Rabbi nicht belegbar, erst rückblickend wurde er ihm in den Mund gelegt und auf ihn angewendet.

 

„Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen“: Aber Heiliger Vater schon? Und Eminenz oder Exzellenz, das ist möglich? Plötzlich stehe ich im Heute und – vor meinen eigenen Titeln. Ich bleibe lieber in der Vergangenheit…

 

„Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen“: In der Gemeinde des Matthäus wurde diese Anrede anscheinend weiterhin verwendet. Wer sich Rabbi nannte, sollt jedoch nicht absolute Autorität genießen: „Denn nur einer ist euer Meister“ (V.8b). Damit ist nicht Jesus, sondern offensichtlich Gott gemeint, wie der folgende Vers verdeutlicht: „Auch sollt ihr niemanden auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel“ (V.9). Auch hier lautet die Konsequenz: „Ihr alle aber seid Brüder (und Schwestern)“ (V.8c).

 

„Ihr alle aber seid Geschwister“: Sind deshalb die einen Klerus, berufen und geweiht, nur Männer, klarerweise? Die anderen: Laien, also Nicht-Fachmänner, und – gibt’s das Wort eigentlich? – Laiinnen, Nicht-Fachfrauen? Viele meiner Kolleginnen im Religionsunterricht sind ideale „Beicht-Mütter“, sie könnten auch Diakoninnen sein. Über Priesterinnen darf nicht einmal geredet werden…

 

„Ihr aber seid Geschwister“: Allen Wünschen nach „Herr“schaft stellt Jesus seine Alternative gegenüber: das Dienen. Als die emanzipierte Frau des Zebedäus für ihre Söhne die Promi-Plätze zu Jesu „rechter und linker Seite“ einfordert, lässt ihn Matthäus antworten (ich wähle die Übertragung von Jörg Zink, noch immer erstaunlich aktuell): „Ihr wisst, wie es zugeht. Die Fürsten regieren die Völker zugrunde. Die Machthaber halten sie unter der Peitsche. Unter euch soll es anders sein. Wer unter euch eine Rolle spielen will, der soll die Rolle des Dieners übernehmen. Und wer unter euch eine leitende Verantwortung sucht, der soll euer aller Knecht sein“ (Mt 20, 25 - 27).

 

„Du aber sollst dich nicht Rabbi nennen lassen“: Der Zeigefinger im heutigen Bibeltext weist auf meine eigene Brust. Er trifft da auf einen ‚Magister’ und ‚Doktor der Theologie’, der Jahrzehnte als ‚Professor’ gelehrt und bei den Prüfungen gar nicht wenig verlangt hat, wie mir Studierende nachsagen.

 

Deine Freude an den Sprachen und Ländern der Bibel, meinte vor kurzem eine Kollegin, ist einfach mitreißend. Du könntest dich ruhig, setzte sie schmunzelnd fort, Rabbi nennen lassen. Josef, sagte ich, genügt auch…