Erfüllte Zeit

13. 11. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Matthäus 25, 14 – 30
von Markus Schlagnitweit

 

 

Die Modernität dieses biblischen Gleichnisses ist geradezu frappierend: als ob es die gegenwärtige Finanzwirtschaft abbilden wollte! Denn bei den Talenten, von denen da die Rede ist, handelt es sich ganz einfach um Geld – schnödes Geld, sehr viel Geld sogar: Heute wäre ein Talent zig 1.000 € wert. Und auch wenn die Wirtschaft zur Zeit Jesu kaum mit dem heutigen Finanzkapitalismus zu vergleichen ist, so galten ähnliche Spielregeln offenbar schon damals: Nur wer bereit ist, sein Kapital zu investieren und aufs Spiel zu setzen, der kann auch gewinnen; wer es dagegen feige vergräbt, hat am Ende sicher nichts gewonnen, sondern gehört zu den Verlierern.

 

An diesem Gleichnis fehlt mir nur eines, obwohl es doch eigentlich logisch mit bedacht werden muss: Gerade einer, der riskiert, kann auch verlieren; das gehört zur wirtschaftlichen Realität. Daran hat zweifellos auch der dänische Philosoph Sören Kierkegaard gedacht und das biblische Gleichnis deshalb etwas erweitert: Er spricht noch von einem vierten Knecht; der hatte auch sein Talent erhalten, es eingesetzt, dabei aber alles verloren. Kierkegaard schließt sein Gedankenexperiment mit der berechtigten Frage, ob dieser allzu risikofreudige Knecht nicht eher Vergebung bei seinem Herrn fände als der vorsichtige und ängstliche dritte Knecht des biblischen Gleichnisses? – Mut zum Risiko, das Anvertraute couragiert ins Spiel bringen ohne Angst vor Verlust oder Schaden – das ist offenbar der entscheidende Vergleichspunkt, um den es im Gleichnis von den Talenten geht.

 

Das Gottesreich steht und fällt also mit der Bereitschaft von Menschen, sich mutig ins Spiel zu bringen – und zwar nicht nur im vertrauten Geviert ihres Privatlebens, sondern in allen Bereichen menschlichen Lebens; sonst wäre dieses Gleichnis gewiss nicht aus der ach so weltlichen und öffentlichen Geldwirtschaft genommen.

 

Das aber heißt: Die Angst vor dem Risiko, sich im komplexen und stets von divergierenden Interessen gekennzeichneten Feld der Wirtschaft, aber auch der Politik oder anderen Bereichen des öffentlichen Lebens zu engagieren und zu exponieren, die Angst, sich im Wege der dabei unausweichlich zu schließenden Kompromisse vielleicht die Hände schmutzig machen zu müssen, also die Angst, schuldig zu werden – und sich deshalb lieber gleich herauszuhalten aus allem und das Feld mithin jenen zu überlassen, die ohnehin keine Skrupel vor nichts und niemandem kennen – diese Angst um die eigene weiße Weste hat im Gottesreich keinen Platz. Im Gegenteil:

 

Das Reich Gottes ist ja keine auf irgendein himmlisches Jenseits zu vertagende Größe. Immer wieder spricht das Evangelium davon, dass es bereits angebrochen und schon da ist, und alleine schon der Begriff des „Reiches“ weist darauf hin, dass es nichts Unpolitisches ist. Das Reich Gottes ist einfach überall, wo Menschen sich im Sinne des Evangeliums furchtlos ins Spiel bringen und aufs Spiel setzen – nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der Politik, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft. Und wer sonst sollte hier – sei es in Parteien, Interessensvertretungen, NGOs oder sonstigen Vereinigungen – wer sonst sollte in diesem Verhandlungsfeld einander oft widerstreitender Interessen die Sache des Gottesreiches vertreten, wenn nicht vom Evangelium bewegte Menschen – selbst auf die Gefahr hin, dabei zu verspielen – sei es nun die eigene Unschuld, sei es die Sympathie von Freunden und Nachbarn?

 

Das Talente-Gleichnis sagt es ziemlich unverblümt: Eine lammfromme „Moral der weißen Weste“, also die Einstellung, „nichts zu riskieren und sich aus allem herauszuhalten, damit nur ja nichts passiert“, oder die politisch untaugliche Weigerung des vermeintlich Frommen, im Widerstreit der Interessen Kompromisse mit Andersdenkenden einzugehen, hat nichts mit dem Himmelreich gemein. Das Gottesreich gründet nicht in einer Moral des Nichts-Tuns, Nichts-Riskierens und Sich-Heraushaltens, sondern es fordert couragiertes Engagement. Das kann schief gehen – gewiss. Aber gerade in dieser Hinsicht ermutigt das Evangelium immer wieder: Auf die liebende Vergebung Gottes darf der Sünder hoffen; für den feigen Knecht dagegen bleiben nach den Worten der Bibel nur Heulen und Zähneknirschen.