Erfüllte Zeit

20. 11. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Kommentar zu Matthäus 25, 31 - 46
von Wolfgang Treitler

 

 

Was ist religiöse Praxis? Was ist christliche Praxis?

 

Wenn man das unter gebildeten Kreisen fragt, die etwas vom Christentum verstehen, kommt immer noch häufig die Antwort: Nächstenliebe.

 

Nächstenliebe – das Wort hat durch seinen fast reflexartigen Gebrauch in verschiedensten Zusammenhängen der christlichen Verkündigung keinen Klang mehr; es klingt wie eine Glocke mit einem Sprung, weil dieser Ton allzu oft angeschlagen worden ist. Für alles stand und steht die Nächstenliebe. Was aber alles betrifft, sagt nichts mehr.

 

Am Ende des sogenannten Kirchenjahres, das nächste Woche mit dem 1. Adventsonntag wieder beginnt, steht der katholische Christkönigssonntag. In der evangelischen Kirche wird der letzte Sonntag im Kirchenjahr „Ewigkeitssonntag“ genannt. Wenn etwas zu Ende geht, wenn eine Zäsur erreicht wird, dann ist es klug, wenn man nachdenkt über das, was vergangen ist.

 

Das bietet sich beim eben gehörten Text des Matthäus-Evangeliums für das Wort Nächstenliebe an. Davon wird hier nicht in allgemeiner Weise gesprochen. Denn damit macht man es sich zu leicht. Heute weist der Text auf etwas hin, was einfach schmerzt: auf die ganz grundlegende Not, die das Leben von Menschen schlichtweg zerstört. Nächstenliebe, nur als Lippenbekenntnis, hilft nichts, sondern kann, so allgemein und nichtssagend gehalten, mit den Kräften der Unterdrückung  ohne weiteres kollaborieren. Und die hier gemeinte christliche Praxis zielt auch nicht auf mystische Gaben oder jenseitige Güter, die niemand kennt; sie zielt nicht auf eine Innerlichkeit, die gleichsam trunken von Gott ist. Die hier gemeinte christliche Praxis zielt auf das Alltägliche und Schwere, nämlich die Not des Mitmenschen überhaupt zu sehen und zu hören und sie nach Möglichkeit zu stillen.

 

Die Not zu sehen, ist heute eine große Kunst; denn in einer dermaßen individualisierten Welt wie der der Industriestaaten/des Westens…, die jedem einreden möchte, er sei ein potentieller Superstar und nur gut genug, wenn er besser als die andern in seinem Umfeld ist, in einer solchen Welt wird Not ausgeblendet. Dafür gibt es die Profis, die das erledigen oder die Not aus dem öffentlichen Bild wenigstens verschwinden lassen. Bettler werden aus den Städten verbannt, sie passen nicht ins polierte Bild der jetzt schon so schön hergerichteten Fußgänger- und Einkaufszonen.

 

Was würde Jesus, wenn er heute noch einmal so sprechen könnte, sagen? Wie und wem die Augen öffnen?

 

Ich war hungrig, ich war durstig – und ihr habt mir für meinen Durst und meinen Hunger ein Bettelverbot gegeben.

Ich war fremd und obdachlos – und ihr habt mich abgeschoben.

Ich war nackt – und ihr habt meine Nacktheit verkauft.

Ich war krank – und ihr habt mich gekündigt.

Ich war im Gefängnis – und ihr wart froh, mich vergessen zu können.

 

Vielleicht würde Jesus heute so reden.

Er sprach von einer Praxis, die aus seinem Volk Israel kommt und zur Praxis der Völker werden sollte – wie es in dieser Evangelienstelle heißt, denn er wird die Völker rufen. Mit dem Hinweis auf die Nächstenliebe ist noch gar nichts getan. Sie fordert mehr, viel mehr. Und sie fordert zuerst, einmal genau hinzuschauen – um nicht das Gegenteil dessen zu tun, was den Armen aufhilft.

Am Ende eines Kirchenjahres ist dieser Text für mich der Anlass, mit offenen Augen leben zu lernen, die Not heute überhaupt einmal zu sehen und wenigstens unruhig zu werden wegen allem, das zur Herrlichkeit des Himmels emporschreit.