Erfüllte Zeit

04. 12. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Jesaja 63, 15 - 19a; 64, 1 - 3
von Michael Bünker

 

 

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; „Unser Erlöser“, das ist von alters her dein Name. Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten - und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! - und das man von alters her nicht vernommen hat. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.

 

In seinem bekannten Stück „Draußen vor der Tür“ hat Wolfgang Borchert abgerechnet mit dem „lieben“ Gott. Gott ist nichts als ein hilfloser, alter Mann, an den keiner mehr glaubt. Die Wirkung nach der Erstausstrahlung des Stückes als Hörspiel im Rundfunk am 13. Februar 1947 – Borchert war gerade einmal 26 Jahre alt und hatte nicht mehr lange zu leben, schon wenige Monate später starb er – die Wirkung war enorm. Begeisterte Zustimmung – endlich hatte jemand für die verlorene Kriegsgeneration eine Sprache gefunden – prallte auf heftigen Widerspruch. Blasphemie, Destruktivität, ein unseliges, widerliches Stück voll Hass und Verachtung, hieß es. „Sie gaben uns keinen Gott mit, der unser Herz hätte halten können“, so schreibt Wolfgang Borchert in seinem Text „Generation ohne Abschied“, „so sind wir die Generation ohne Gott, ohne Bindung, ohne Vergangenheit, ohne Anerkennung.“ Wie ein Echo auf die Worte des Propheten: „Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.“

 

Aber – und dieser Gegensatz beschäftigt mich – während bei Borchert Gott als hilfloser, weinerlicher alter Mann beschrieben wird und letztlich resigniert die Bühne verlassen muss, betet der Prophet zu einem mächtigen, kraftvollen Gott. Ja, der könnte die Himmel zerreißen und die Berge zum Schmelzen bringen. Daran besteht kein Zweifel. Ein Gott, dem zugetraut wird, auch etwas Furchtbares zu tun, das ebenso einmalig, unerwartet und unausrechenbar geschieht wie – und das hat ganz gewiss das letzte Wort - sein unergründliches Wohltun an denen, die auf ihn harren.

 

Das Buch des Propheten Jesaja spannt einen weiten Bogen. Es setzt ein mit der Bedrohung Jerusalems durch die Großmächte der damaligen Zeit, Ägypten auf der einen und das neubabylonische Reich auf der anderen Seite, es schildert die Katastrophe der Eroberung Jerusalems, der Zerstörung des Tempels und der Deportation der Menschen nach Babylon. Aber das ist nicht das letzte Wort. Im Exil tröstet die prophetische Botschaft die Verzweifelten, die an den Flüssen Babylons sitzen und weinen (zu lesen in Psalm 137) und bekräftigt ihr Vertrauen darauf, dass Gott sie wieder zurückbringen werde. Und als das dann endlich geschieht, da sind sie – wie es Psalm 126 formuliert - wie die Träumenden. Aber die Rückkehr führte nicht ins Paradies, sondern in die Mühen der Ebene. Das Land verwüstet, Jerusalem, die Heilige Stadt zerstört, der Tempel eine Ruine. Uneinigkeit, ja Feindseligkeit unter den Menschen. Aus dieser Situation, in diese Situation sprechen die letzten Kapitel des Jesajabuches.

 

Die alttestamentliche Wissenschaft hat diesen weiten inhaltlichen Bogen und die lange Zeitspanne zum Anlass genommen, im Jesajabuch verschiedene Propheten am Werk zu sehen. Einen ersten, einen zweiten, ja einen dritten Jesaja meinte man identifizieren zu können. Auch wenn das historisch zutreffen mag, das Buch ist doch zu einem Ganzen gefügt und will als ein Ganzes gelesen werden. Und am Ende findet man sich in einer merkwürdigen spannungsvollen Situation – einerseits die erfüllte Hoffnung, das Volk ist heimgeführt worden, Gott hat es nicht im Exil verkommen lassen; andererseits ist der Traum von einer heilen Welt, der idealen Heimat, der Vergangenheitsverklärung, dieser ewige Kindheits- und Kindertraum verflogen, die Menschen finden sich mit ihrem Glauben in der harten, feindlichen Wirklichkeit. Ein Lied wird gesungen, weithin ein Klagelied: „Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.“

 

Aber – und das macht das Besondere aus, auch den Unterschied zu Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“, aus der Klage entsteht etwas anderes, etwas Ungewohntes, ja Unerhörtes. Gott und das bittere Los werden nicht nur beklagt, Gott wird direkt angeklagt: Warum lässt du uns abirren? Warum verhärtet sich deine Barmherzigkeit gegen uns? Ja, die eigene Schuld wird eingestanden, aber Gott wird ebenfalls, vielleicht noch mehr belastet. Darf man das? Gott belasten? Im Judentum – unser Prophetenlied zeigt es – hat das einen festen Platz. Viele Beispiele ließen sich nennen, angefangen von Hiob und den Psalmen bis in die Gegenwart. Im 19. Jahrhundert sangen Jüdinnen und Juden in Russland ein Lied, in dem es heißt: „Schreit, Juden, schreit laut und deutlich; schreit in den Himmel. Ihr könnt den alten Mann wecken, der so tut, als würde er schlafen.“

 

Und im Christentum heute? Da ist weithin von Gott nichts geblieben als ein unbeteiligtes “höheres Wesen“, das der aufgeklärte Verstand gerade noch zulassen kann oder ein nichts anderes als „lieber“ Gott und je länger dieser nichts als „liebe“ Gott herrscht, desto schneller macht der Teufel Karriere. Weil er dann für alles verantwortlich ist, was nicht „lieb“ ist.

 

Doch – und das zeigt die biblische Überlieferung fast auf jeder Seite: Gott lässt sich belasten. Etwa mit der Erinnerung an seinen Namen, der immer ein Versprechen ist. „Unser Erlöser“, so heißt Gott bei Jesaja, also der, der aus der Knechtschaft befreit, der die Niedrigen aus dem Staub emporhebt und die Mächtigen vom Thron stößt, der die Hände der Armen mit Gütern füllt und die Reichen leer ausgehen lässt, wie es Maria in ihrem Magnifikat im Lukasevangelium singt (Lukas 1,52-53). Ich glaube daran, dass sich Gott belasten lässt und belastet werden will, indem er Mensch wird wie alle Menschen auch und als ein Kind, ein Armeleuteflüchtlingskind zur Welt kommt. Ach, schau doch herab, nein, zerreiß den Himmel und fahre herab! O Heiland, reiß den Himmel auf! Wie so oft in biblischer Frömmigkeit auch hier der Gegensatz zwischen ganz groß und ganz klein, das kosmische Drama des zerrissenen Himmels, der zerschmolzenen Berge auf der einen Seite und auf der anderen das Feuer im Reisig unter dem Wasserkessel, um Essen zu kochen.

 

Der christliche Glaube stellt sich nicht neben die Glaubenserfahrungen des Alten Testaments, stellt sich schon gar nicht gegen sie, sondern stellt sich in sie hinein, setzt sie in Jesus Christus fort. Wer verstehen will, was es mit dem Messias Jesus auf sich hat, muss das Alte Testament lesen. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.