Erfüllte Zeit

25. 12. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Niemand hat Gott je gesehen“ (Johannes 1,1 – 18)
von Kardinal Christoph Schönborn

 

 

Deutlicher kann man es nicht sagen: „Niemand hat Gott je gesehen.“ Deshalb ist es ja so leicht, daraus zu schließen: Also gibt es ihn nicht. Als Juri Gagarin 1961 als erster Mensch im All war, sagte er, er habe Gott dort nicht gesehen - und hatte damit völlig recht: Gott ist unsichtbar. Gagarin sagte das als Bestätigung des offiziellen sowjetischen Atheismus. Er hat keinen Gott gesehen - also gibt es keinen. Das ist ein primitives Argument. So primitiv wie das des berühmten Arztes Rudolf Virchow (1821-1902), der gesagt haben soll, er habe beim Operieren nie eine Seele gesehen. Weil etwas unsichtbar ist, heißt das noch nicht, dass es nicht existiert.

 

Niemand hat je Gott gesehen. Das sagt auch Johannes im berühmten Prolog zu seinem Evangelium. An anderer Stelle sagt Johannes: “Wir werden Ihn, Gott, sehen, wie Er ist“. Aber das ist nicht möglich in dieser Welt. Es bleibt daher die Frage, ob das nicht genauso eine Täuschung, eine Vertröstung sein kann. Wird das wirklich so sein? Wenn Gott unsichtbar ist, wie sollen wir ihn je sehen? Wie sollen wir glauben, dass es ihn gibt?

 

Johannes gibt darauf eine Antwort: Einer hat Gott gesehen. Einer kann deshalb Kunde von Gott bringen. Einer kann von Gott reden, weil er ihn wirklich kennt: Jesus, den wir den Christus, den Sohn Gottes nennen. Er hat nicht nur eine Ahnung  von Gott, wie die meisten von uns. Er hat nicht nur geglaubt, dass es Gott gibt, wie es die große Mehrheit der Menschen tut. Er weiß es. Er hat unmittelbare Kenntnis, direktes Wissen von Gott.

 

Dafür nennt Johannes einen Grund:  Christus, „der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“. Jesus kennt Gott, weil er selber Gott ist, weil er aus dem Herzen Gottes stammt. Wörtlich steht da: der „im Schoß des Vaters ist.“

 

Jesus kann Kunde von Gott bringen, weil Gott ihm kein Unbekannter, Unsichtbarer ist. Wie ist Jesus bei und in Gott? Johannes hat dafür einen starken Ausdruck gefunden: Jesus ist in Gott wie das Wort im Herzen. Noch ehe es ausgesprochen wird, trage ich es im Herzen. Jesus ist Gottes Wort. Und dieses war immer schon in Gott, und es war selber Gott. Und durch sein Wort hat Gott alles geschaffen. Alle Geschöpfe sagen daher etwas von Gott. Sie sind seine Sprache. Wer aufmerksam die Schöpfung betrachtet, hört und sieht in allen Dingen Gottes Wort.

 

Aber in keinem Geschöpf hat Gott sich so deutlich ausgesprochen wie in Jesus. In ihm, so sagt Johannes, ist Gottes Wort „Fleisch geworden“. Bei diesen Worten knien heute im Weihnachtsgottesdienst alle nieder. Es ist wirklich zum Niederknien. Gott ist sichtbar geworden. Nicht in seinem unendlichen, unsichtbaren Geheimnis, sondern in einem kleinen Menschenkind. „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“. Gott ist ganz nahe gekommen. Er wohnt in unserer Mitte. Das ist die Weihnachtsbotschaft. Wie aber sehen wir ihn? Wo finden wir ihn? In der Krippe? Gewiss. Aber ganz nahe ist Er mir im Nächsten, der mich braucht. Heute schon.