Erfüllte Zeit

26. 12. 2011, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Damit Menschen Menschen bleiben…“ - Vom kompromisslosen, gefährlichen Einsatz für den Glauben (Mt 10, 17 - 22 )
von Helga Kohler-Spiegel, Feldkirch

 

 

Ein erschütternder Text. Gerade war die Stimmung noch weihnachtlich, anregend und friedlich, die Atmosphäre des Heiligen Abend klingt noch nach, die Feiern und die Lieder und die Düfte… Und dann dieser Text. Am heutigen Tag wird des ersten Märtyrers Stephanus gedacht, und damit wird gleich wieder bewusst, wie nah die Freude über die Geburt und die Trauer über die Bedrohtheit des Lebens, wie nah Frieden und Gewalt beieinander liegen.

 

Im ersten Teil des Evangeliums hat Matthäus den Leserinnen und Lesern verdeutlicht, wer dieser Jesus ist, woher er kommt, warum er kommt und wozu er wirkt. Die Leserinnen und Leser konnten wahrnehmen, wer auf Jesu Seite steht und wer ihm feind ist. Es konnte sichtbar werden, welche Bedeutung Jesus für Juden und für Nicht-Juden hat…

 

Und nun dieser erschütternde heutige Text, ein Abschnitt aus der sogenannten „Aussendungsrede“. Das ist eine der fünf großen Reden im Matthäusevangelium, mit Hilfe deren das Matthäus-Evangelium parallel gesetzt wird zu den fünf Büchern Mose. So zentral und unverzichtbar die Tora für das Selbstverständnis der Juden ist, so zentral ist Jesus und seine Botschaft für die Christen.

 

Bislang waren die Jünger Salz der Erde, Licht der Welt, Menschenfischer. Jetzt spitzt sich die Atmosphäre zu, längst ist klar, dass es Menschen gibt, die die Botschaft Jesu hören, und Menschen, die sie ablehnen und bekämpfen. Bilder aus dem Alten Testament, aus der prophetischen Literatur werden verwendet, um die Dramatik der Erfahrungen zu benennen: „Schafe“ und „Wölfe“ liegen nicht mehr friedlich beieinander, sondern der „Gerechte“ ist bedroht durch den „Gewalttätigen“, so findet sich das Bild bei den Propheten. Und wer die Botschaft Jesu kennt, weiß um diese Auseinandersetzungen. Es geht um die Erfahrung, dass gerade gewaltfreie Menschen von Gewalt bedroht sind. Jesus selbst hat dies erlebt, aus allen Jahrhunderten und aus allen Kulturen können wir Menschen nennen, die für ihren Glauben gelitten haben und ermordet wurden.

 

Der Text nimmt die Bergpredigt auf, der Text redet ganz konkret davon, was alles geschehen kann – und auch geschieht, wenn Menschen leben wie Jesus. Der Text redet aber auch von der Zusage, die Christinnen und Christen erfahren: Der „Ich-bin-da, als ich da sein werde“, JHWH, Gott selbst begleitet mit seiner Kraft, mit seinem Geist die Menschen, die Jesu Weg nachfolgen, die nicht zu Gewalt greifen, die Macht nicht missbrauchen, die den „glimmenden Docht“ nicht auslöschen.

 

Eigenartig, wir hören heute einen Text in einer Dramatik, die christlicher Glaube in unseren Regionen nicht (mehr) hat. So lange aber ist es nicht her, dass Menschen ermordet wurden, wenn sie den Kriegsdienst verweigert haben, wenn sie aus der Kraft des Glaubens gegen das Nazi-Regime aufgetreten sind. Im Westen Österreichs wurde gerade erst die Seligsprechung von Provikar Lampert gefeiert, unfassbar eindrücklich, dem Leben eines Menschen näher zu kommen und den Mut und die Angst und die Hoffnung und den Schmerz ein bisschen zu ahnen, die einen Menschen durch Verfolgung und Folter bis in den Tod hinein begleiten. Carl Lampert lebte vor, "wie Menschen wieder Menschen werden“, auch in widrigsten Umständen.

 

Heute wird ein Text aus dem Evangelium gelesen, dessen Dramatik wir – gottseidank – nicht erleben müssen. Heute wird des ersten Märtyrers Stephanus gedacht, es wird all der Menschen gedacht, die für ihren Glauben, ihren Gewaltverzicht, ihren Einsatz für den Menschen verfolgt werden. CSI Christian Solidarity International als christliche Menschenrechtsorganisation, oder AI Amnesty International stehen stellvertretend für das Engagement von Menschen für die Einhaltung der Menschenrechte. Nicht zufällig sind Weihnachten und Stephanstag so nah beieinander, weil Leben und Bedrohung des Lebens so nah beieinander sind. So gehört es zu Weihnachten, sich immer wieder zu engagieren für eine Welt, in der Menschen einander nicht verfolgen und quälen, sondern in der „Menschen wieder Menschen sind“.