Erfüllte Zeit

15. 01. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Kommentar zu Johannes 1, 35 – 42
von Pater Karl Schauer

 

 

Die Bibel, die Schriften des ersten und des zweiten Bundes, sind eigentlich eine Anhäufung von Berufungserzählungen. Die Anrede des ersten Menschen durch Gott, die Beauftragung der Propheten und Könige, die Erwählung des Gottesvolkes, der Auftrag an die Jünger und Frauen um Jesus ist nichts anderes, als ein immer neues Hören auf Gott, ein sich von ihm In-Anspruch-nehmen-Lassen, ist nichts anderes, als dem Wort Gottes Gestalt zu geben in der konkreten Zeit und in der konkreten Welt.

 

Gott setzt auf den Menschen, davon bin ich überzeugt, er setzt auf seine Größe und Schwäche, auf sein Gelingen und auf sein Scheitern, er ist sogar einer von uns Menschen geworden. Gott vertraut dem Menschen. Er vertraut sich den Menschen an, Frauen und Männern, Jungen und Alten. Gott traut dem Menschen viel zu, eine große Herausforderung, oft auch eine Überforderung.

 

Von dieser Berufung redet in der katholischen Kirche das Evangelium vom heutigen Sonntag: Der Mensch kommt mit Gott – eigentlich nur nebenbei, fast zufällig – in Berührung. In der Offenheit des Fragens und Suchens, im Aufbrechen in eine unsichere Zukunft, in der Herausforderung des Lebens, in der Unsicherheit und im Zweifel der Lebensentscheidungen kann der Mensch Gott entdecken, auf SEINE Spur kommen. „Wo wohnst du?“ – diese nahezu banale Frage der beiden Jünger zielt für mich auf die eigentliche Frage jedes suchenden Menschen, die vielleicht heißt: „Wer bist du, Gott? Wo bist Du heute zu finden? Was hast Du mit meinem Leben überhaupt zu tun?“

 

Die mögliche Antwort gibt aber in dieser Evangelienstelle nicht der Mensch, er kommt mit seinen Fragen nicht ans Ziel. Die Antwort gibt Er, die Antwort IST Er: „Kommt und seht!“ So nüchtern wird Berufung im Johannesevangelium skizziert. Jesus zwingt nicht, er nagelt die beiden Jünger nicht fest, er gängelt sie nicht. Erst als die beiden Interesse zeigen, spricht er sie an, er fragt sie behutsam, was sie von ihm wollen.

 

Vielleicht ist gerade diese Beiläufigkeit, das Nichtverstehen tieferer Beweggründe, dieser unerwartete Einbruch in den Alltag das tiefere Geheimnis der Berufung des Menschen durch Gott. Auch die Berufung des Simon geschieht indirekt, durch einen Fingerzeig seines Bruders Andreas.

 

Solche Berufungsgeschichten gibt es natürlich auch heute. Der Maßstab für wirkliche Berufung wird das Beiläufige und das Unerwartete bleiben. Der Mensch rechnet eigentlich nicht damit. Er rechnet nicht damit, von Gott eingespannt zu werden, von ihm gebraucht zu werden. Menschen, die immer von ihren Berufungserlebnissen reden, die immer ihr Nahverhältnis zu Gott genau umschreiben und bezeugen können, die ihre Berufung ständig vor sich hertragen, sind meiner Erfahrung nach nicht gerade bewundernswert, sondern eher bemitleidenswert.

 

Wen aber Gottes Ruf trifft, - und das ist nicht nur ein kleiner Kreis besonders Erwählter – der muss wohl mit dem Unvorhersehbaren rechnen. Gottes Ruf, seine Berufung verändert das Leben, trifft das Leben. Damals waren es die Fischer, die Zöllner, die Zeltmacher, die Frauen am Rande, jene also, die sich wenig zumuten konnten. Auch heute müssen es die Menschen in allen Berufs- und Gesellschaftsschichten sein, Menschen in allen Lebens- und Altersstufen, die offen und bereit sind, sich unspektakulär von Gott für die Anforderungen in dieser Welt einspannen zu lassen.

 

In zwei Tagen, am 17. Jänner, feiern die verschiedenen christlichen Kirchen in Besinnung auf ihre Wurzel den „Tag des Judentums“. In einer Woche beginnt die ökumenische Gebetswoche für die Einheit der Christen. Beide Ereignisse wollen darauf aufmerksam machen, dass Berufung nicht der Anspruch einer bestimmten christlichen Kirche oder nur die Christen insgesamt meint. Berufung kann als Initiative Gottes verstanden werden und zielt auf die Menschen verschiedener Kirchen, Religionen und Gemeinschaften quer durch die Geschichte. Diese Wahrheit hat das Zweite Vatikanische Konzil, das vor 50 Jahren eröffnet wurde, in beeindruckender Weise wieder besonders entdeckt.

 

Für alle, die Gottes Ruf hören und anzunehmen bereit sind, seinen Anspruch ernst nehmen, heißt das aber: Nicht aus der Welt flüchten, nicht Rückzug in einen elfenbeinernen Turm, nicht Konzentration auf religiöse Sonderwelten, sondern sich den Herausforderungen der Gesellschaft stellen, Verantwortung für die Gegenwart und für die Zukunft wahrzunehmen, Anwalt zu sein für die Menschen und Dolmetscher für Gott.

 

„Du sollst Kephas heißen!“ bedeutet für sie: „Du wirst ein Fels sein mitten in der Brandung des Lebens“.