Erfüllte Zeit

22. 01. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Kommentar zu Markus 1, 14 – 20

von Regina Polak

 

 

„Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ Für mich sind diese beiden Sätze aus dem Markus-Evangelium der „Schlüssel“ zum christlichen Glauben. Dieser „Schlüssel“ öffnet das Tor zum Kern, zur inneren Mitte, zum Herzen der Botschaft von Jesus Christus. Die Botschaft ist freilich nicht ganz neu. Vom Wirken des Reiches Gottes erzählt schon das Alte Testament. Jesus zeigt einen konkreten Weg zu diesem Reich.

Die historisch-kritische Bibelexegese hat gezeigt, dass die Verkündigung vom nahen Reich Gottes der zentrale Inhalt der Botschaft Jesu ist. Reich Gottes ist kein Territorium, auch keine machtpolitische Größe. Reich Gottes bedeutet Gottesherrschaft. Herrschaft ist allerdings auch ein geschichtlich belastetes Wort: Gewalt, Unterdrückung, Unfreiheit fallen einem ein. Das ist hier nicht gemeint. Gottesherrschaft bedeutet: Alles, was ist und lebt, steht in einer innigen Beziehung zu Gott. Reich Gottes beschreibt eine Welt, die von der Logik Gottes geformt ist:  Liebe und Gerechtigkeit, Freiheit und Wahrheit bestimmen das Leben. Schwer zu glauben, wenn man die Weltnachrichten hört, in der Nebenwohnung die Nachbarn bis aufs Blut streiten und man selbst nicht weiß, wo einem vor Problemen der Kopf steht. Und doch sagt Jesus genau das: Das Reich Gottes ist da. Mitten in diese schwere Welt hinein. Immerhin war laut biblischem Bericht Johannes der Täufer gerade im Gefängnis gelandet. Ist Jesus naiv? Ist er zynisch?

Ich halte diese Botschaft für das spirituelle Gegengift in einer schwierigen Welt. Es hilft gegen Angst, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung. Es kann die Wirklichkeit verändern, indem man sie anders – von Gott her – wahrnehmen lernt.

Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist da. Der erste Satz bringt die spirituelle Grunderfahrung Jesu zum Ausdruck. Jesus erfindet das Reich Gottes nicht neu. Er ist mit den Worten der Psalmen und Propheten, den heiligen Schriften seiner jüdischen Religion, vertraut, er ist so tief mit Gott verbunden, dass er wahrnehmen kann: Dieses Reich Gottes ist nahegekommen. Mehr als das: Es ist DA. Es wirkt bereits hier und jetzt. Das griechische Wort für „nahegekommen“ steht im Aorist, einer Zeitform, die besagt: Etwas hat begonnen und wirkt in der Gegenwart, jetzt und hier. Inmitten des Lebenschaos. Jesus nimmt die Präsenz Gottes in der Gegenwart wahr. Alles, was er fortan sagt und tut, vollzieht sich in diesem Horizont: in der Gegenwart Gottes. Wenn er heilt und Dämonen austreibt, geschieht das Reich Gottes. Wenn er Gleichnisse erzählt und lehrt, wirkt das Reich Gottes. Wenn er Arme, Kranke, Sünder, Ausgestoßene aufsucht, realisiert sich das Reich Gottes. Wenn er leidet und stirbt, weiß er sich geborgen im Reich Gottes. Dies ermöglicht Auferstehung.

Reich Gottes ist ein Ereignis, ein Zeitwort, ein Prozess mit bestimmten Qualitätskriterien. In Jesus wird für mich Reich Gottes wahrnehmbar. Die Frohe Botschaft: Wenn Menschen glauben, leben und handeln wie Jesus, können sie in der Gegenwart das Reich Gottes wahrnehmen. In der Gegenwart ist das Reich Gottes immer schon anwesend - nicht bloß wie ein Fragment, sondern als Nukleus, als Kern in jedem Augenblick und ganz. Jesus eröffnet mir mit seiner Botschaft eine neue Wahrnehmung: von Zeit, von Wirklichkeit, von Gott.

Was philosophisch klingt, zeigt sich ganz praktisch, auch heute: Reich Gottes geschieht, wenn Menschen einander Schuld vergeben, wenn sie von Ängsten, Unfreiheiten, Krankheiten genesen, wenn sie sich für Gerechtigkeit engagieren, wenn sie vom Tod gerettet werden oder miteinander ein Fest feiern. Reich Gottes ereignet sich immer ganz konkret und spezifisch. Auf vielerlei Arten lässt sich das meiner Überzeugung nach auch heute wahrnehmen – wenn man aufmerksam sucht.

Freilich geschieht das nicht von selbst. Eine solche Wahrnehmung möchte geübt und gelernt sein. Sie hat Voraussetzungen. Daher der zweite Satz: Kehrt um, und glaubt an das Evangelium! Leider wurde und wird dieser Satz meistens verkürzt gehört: als Appell zu moralischer Verbesserung und als ideologische Aufforderung, Sätze und Lehren für wahr zu halten. So, als müsste man zuerst moralisch perfekt und kognitiv richtig funktionieren, um das Reich Gottes wahrnehmen zu können. Eine solche Lesart verdreht die Frohe Botschaft ins Gegenteil. Der Weg, den Jesus zeigt, ist genau umgekehrt. Der Schlüssel zum Evangelium birgt dessen ganze Logik: Nehmt wahr, dass Gott da ist – das wird Euer Leben verändern. Umkehr bedeutet im Griechischen: Meta – Noia: Den Geist, die Wahrnehmung der Wirklichkeit verändern. Daher fordert dieser Satz alle Glaubenden auf:  Nehmt die Wirklichkeit anders wahr! Verändert Eure Beziehung zu Gott! Das ist möglich, weil sein Reich schon da ist! Dies ist das Evangelium, auf das ihr Euer Vertrauen setzen dürft. Dann verändern sich auch Denken, Fühlen und Handeln. Wie das konkret aussieht, davon erzählt die ganze Heilige Schrift. Davon erzählt auch die Gegenwart, wenn man sie aus dieser Perspektive wahrnehmen lernt.

Diese gute Nachricht ist in meinen Augen nach wie vor uneingeholt und revolutionär. Sie klingt so schlicht – und ist doch so schwierig zu glauben. Wo soll in einer Welt vergangener und gegenwärtiger Katastrophen Gottes Reich sein? Diese Frage kann man nicht wegwischen. Sie erfährt auch Jesus, wenn er am Kreuz Psalm 22 zitiert: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? Aber selbst in dieser Stunde bricht er die Beziehung zu Gott nicht ab.

Das Reich Gottes wahrzunehmen, bedarf einer langen Lern-Zeit: mittlerweile Jahrtausende. Ich fürchte, es liegt nicht an Gott. Es liegt an den menschlichen Wahrnehmungsstörungen: Blindheit, Taubheit, Fühllosigkeit verdunkeln das Reich Gottes. Menschen können dann nicht mehr gottgerecht handeln. Deshalb ist es so wichtig, sich an das Wort Jesu zu erinnern, wie es das Markusevangelium überliefert. Ich meditiere es in stillen Stunden, immer wieder. Manchmal sieht die Welt dann anders aus und neue Wege tun sich auf.