Erfüllte Zeit

29. 01. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Kommentar zu Markus 1, 21 – 28
von Regina Polak

 

„Von Gott ist im Alltag wenig zu bemerken.“ – Dieser Aussage stimmen zwei Drittel der österreichischen Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren zu. Dabei geben 69% der jungen Menschen an, an Gott zu glauben. Bei den erwachsenen Österreicherinnen und Österreichern sieht die Lage nicht viel anders aus. Es ist eine Minderheit, die in der Österreichischen Wertestudie 2008 davon berichtet, schon einmal die Erfahrung der Einheit mit Gott gespürt zu haben. Gott ist für die große Mehrheit ein Wort, dem sie wohl Glauben schenken möchten, aber nur für wenige eine hautnah erfahrene Alltagswirklichkeit. Übrigens unterscheiden sich Gläubige da nur wenig von Nicht-Gläubigen. Vielleicht besteht darin die Gotteskrise: Gott ist Teil einer stark moralisch ausgerichteten Weltanschauung, aber nur für eine Minorität eine Person, zu der man eine Beziehung mit allen Höhen und Tiefen pflegt, die man im Alltag auch wahrnehmen kann. Die Gotteskrise ist eine Erfahrungskrise. Zeitgleich gibt es in der Gesellschaft zunehmend mehr Menschen, die auf der Suche sind nach authentischem Lebenssinn, nach echter spiritueller Erfahrung.  

Wie hätten all diese Menschen wohl reagiert, hätten Sie Jesus in der Synagoge in Kafarnaum erlebt? Die Menschen, von denen das Markus-Evangelium erzählt – gläubige Juden, mit Gottesrede vertraut – jedenfalls sind betroffen und erschrocken. Da spricht einer anders über Gott, als sie es gewohnt sind – von ihren Schriftgelehrten, Theologen, Priestern, Pastoralassistenten. Nicht, dass das falsch wäre, was diese bisher gesprochen haben – aber plötzlich bewirkt das Wort etwas. Die Menschen merken: da spricht einer mit göttlicher Vollmacht. Indem Jesus spricht, wirkt Gott, - das will diese Bibelstelle verdeutlichen. Seine Lehre wurzelt offenkundig in einer authentischen spirituellen Erfahrung. Die altbekannten Worte bekommen plötzlich Leben. Das ist so ungewohnt und anders, dass die Menschen seine Worte sogar für eine neue Lehre halten. Neu ist da inhaltlich freilich gar nichts; Jesus ist zutiefst verhaftet in der jüdischen Tradition. Ungewohnt ist freilich: Die Tradition wird lebendig, sie hat Folgen in der Gegenwart.

Auffallend ist: Die Folgen dieser Worte sind zunächst keinesfalls Wohlbefinden, Zufriedenheit, spirituelle Erleuchtung. Die erste Folge ist Widerstand. Das Evangelium unterscheidet hier sehr fein: nicht der Mann leistet Widerstand, sondern der „unreine Geist“, der ihn beherrscht: Er ist der erste, der weiß, dass seine Zeit vorbei ist. Er wehrt sich mit Händen und Füßen. Gottesbegegnung ist zuallererst offensichtlich nicht angenehm. Alles, was Gott entgegensteht, muss weg. Jesus, von dem die Evangelien erzählen, dass er in der Begegnung mit Menschen meistens erzählt, fragt, heilt – hier wird er geradezu harsch und kompromisslos: „Schweig und verlass ihn“. Was könnten solche „unreinen Geister“ sein? Wer Erfahrungen mit einem spirituellen Weg kennt, dem fallen da vielleicht ein: alte, unerledigte biographische Geschichten und der Schmerz, die Schuld, das Leid, die Unversöhntheit, die damit verbunden sind und an denen man festhält; aber auch spirituelle Fehlhaltungen wie Ich-Bezogenheit, Zorn, Hass, Neid und Missgunst, Besserwisserei und vieles mehr. Diese „unreinen Geister“ wird man nicht von heute auf morgen los – es ist ein langer, schmerzvoller Weg, von ihnen erlöst zu werden. Unrein sind diese allzu menschlichen Phänomene auch nicht an sich. Was Jesus hier verjagt, ist das ich-fixierte Festhalten an ihnen und die Verweigerung, sich auf Gottes Wirken einzulassen. Was hier in einer kurzen Erzählung im Zeitraffertempo abläuft, dauert im Leben oft jahrzehntelang. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Menschen erschrecken – nicht nur damals, sondern wahrscheinlich auch heute, wenn sie diese Stelle hören oder wenn ihnen so etwas selbst im Leben durch einen anderen Menschen begegnet. Gottes lebendiges Wort steht meiner Erfahrung nach mitunter quer zu dem, was Menschen erwarten. Natürlich ist nicht jedes Erschrecken durch Gottes Wort im Menschen-Wort von Gott: Wer anderen mit Bibelauslegungen und religiöser Lehre absichtlich durch Drohungen Angst macht, verfehlt das Evangelium. Maßstab ist die heilsame Wirkung solchen Erschreckens: Am Ende ist der Mann in der Synagoge befreit vom unreinen Geist.

Die Schriftstelle aus dem Markus-Evangelium ist in meinen Augen eine Ermutigung. Sie ermutigt mich dazu, lebendige Schriftlesung zu riskieren und mich darin vom Wort Gottes betreffen, vielleicht auch erschrecken und sodann heilen zu lassen. Sie ermutigt mich dazu, mich bei der Suche nach authentischer spiritueller Erfahrung auf Unerwartetes, vielleicht auch auf schmerzvolle Selbsterkenntnis einzulassen, die mir durch Gott zugemutet werden. Gerade die sperrigen biblischen Texte bergen oft die Möglichkeit zu tieferer Erkenntnis des Lebenssinnes.  Diese Markus-Stelle ermutigt zugleich dazu, selbst zu lernen, wie man ein Interpret, eine Interpretin des Schriftwortes werden kann, die aus göttlicher Vollmacht spricht. Das betrifft nicht nur die hauptamtlichen Bibelausleger – jeder Mensch kann etwas zur Schriftauslegung beitragen, wenn er oder sie sich auf einen Lernprozess einlässt. Jesus kann dies allein aus seiner einzigartigen Gottesbeziehung heraus. Aber er ermutigt auch dazu, selbst zu tun, was er getan hat. Menschen brauchen dazu Begleitung und Korrektur durch andere Menschen und wohl auch eine lebendige Gottesbeziehung. Dadurch können schrittweise auch die unreinen Geister vertrieben werden, die den direkten Draht zur Schrift und damit auch zu Gott und einem geglückten Leben verstellen.

Vielleicht ist dieser Weg ein Angebot für die vielen Menschen, die gegenwärtig an Gott glauben und nach einer Spiritualität suchen, die im Alltag begleitet. Für mich jedenfalls gehört Schriftlesung dazu, die Orientierung an Jesus Christus und seiner einzigartigen Gottesbeziehung, die Erkenntnis der je eigenen unreinen Geister. Vor allem aber die Offenheit für die göttliche Vollmacht, die den Worten und letztlich dem Leben Leben verleihen kann.