Erfüllte Zeit

05. 02. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Kommentar zu Jeremia 9, 22 – 23
von Landessuperintendent Thomas Hennefeld

 

 

„Dieser Prophet war ein empfindsamer Mann, der in schonungslosem Widerspruch stand zu seiner Welt und Zeit. Er war ein scheuer Mann, den auch die einleuchtenden und machtgebietenden Irrtümer dieser Erde nicht gebeugt haben. Denn er gehorchte keinem anderen als der Stimme Gottes, die in ihm und zu ihm sprach.“ So beschreibt Franz Werfel den Propheten in seinem eindrucksvollen expressionistischen Roman:  „Jeremias Höret die Stimme“. Franz Werfels 1936 erschienener Roman war gedacht als Mahnung gegen verantwortungslose Herrschaft und es war ein verschlüsselter Aufruf, Widerstand zu leisten gegen einen totalitären Ungeist, gegen Selbstüberhebung und gegen die Allmacht des Staates.

 

Wie ein Leuchtturm ragt die Gestalt Jeremias heraus aus seiner Zeit, einer Zeit großer politischer Umwälzungen, einer Zeit der Verwirrung und fataler Irrtümer.  Dabei ist Jeremia kein Held, sondern einer, der immer wieder mit sich und mit Gott ringt, von dem er ja den Auftrag bekommen hat, von Gott zu reden. Er verfolgt keine eigenen Interessen, er ist ausschließlich das Sprachrohr Gottes, um seinem Volk das nahende Gericht anzukündigen, aber auch Trost zuzusprechen.  

 

Jeremia beginnt seine Verkündigung in unruhigen Zeiten. Die Babylonier sind zur neuen Großmacht aufgestiegen, und bald schon werden sie vor den Toren Jerusalems stehen. Jeremia wird schließlich selbst Zeuge der Eroberung der heiligen Stadt und der Deportation der Oberschicht des Volkes. Die Herrschenden hofften noch, zuerst durch politische Machenschaften, dann durch die Rüstung zum Krieg,  das Schlimmste verhindern zu können. Jeremia hat diese Politik von Anfang an als sinnlos und verwerflich gebrandmarkt.

 

Seine Worte, durch die Gott das Volk retten wollte, wurden aber nicht dankbar aufgenommen, sondern im Gegenteil, sie brachten dem Propheten Verfolgung, Gefangenschaft und beinahe den Tod. Es waren schneidend scharfe Worte, die weder ein König noch ein anderer Herrscher aber auch nicht das Volk hören wollten.

 

Er prangerte den religiös-sittlichen Verfall an und warnte davor, sich auf eigene Macht, Kraft und Geschicklichkeit zu verlassen, anstatt auf Gott zu vertrauen. Der Prophet geißelte die Lüge und Doppelzüngigkeit der Menschen, die Falschheit und die Eigensucht. Die Worte des Propheten sind in eine ganz bestimmte Zeit gesprochen und doch sind sie auch zeitlos.

 

Es gab und es gibt auch heute Menschen, die sich selber bewundern und bewundert werden wollen, die sich mächtig fühlen, wenn sie über andere bestimmen können und die Almosen großzügig verteilen von dem, was sie anderen abgepresst haben. Wenn man sich schon rühmt, dann sollen sich die Menschen rühmen, dass sie Gott erkennen.

 

Schon im Alten Testament gibt es diesen Zusammenhang zwischen Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis, Gottesliebe und Nächstenliebe. Der Schweizer Reformator Johannes Calvin hat diese Erkenntnis ins Zentrum seiner Theologie gestellt und nach diesem Grundsatz eine ganze Gesellschaft gestaltet.

 

Und im Evangelischen Gesangbuch bringt ein Liedtext von Christian Fürchtegott Gellert diesen Zusammenhang auf den Punkt, der lautet: „So jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst doch seine Brüder, der treibt mit Gottes Wahrheit Spott und reißt sie ganz darnieder.“

 

Diese Botschaft wollte auch Jeremia seinen Zuhörern vermitteln. In diesen zwei Versen begegnen mir zwei völlig konträre Lebenshaltungen. In der einen ist der Mensch das Maß aller Dinge, meint, die Welt durch eigene Kraft im Griff oder zumindest unter Kontrolle haben zu können, in der anderen ist der Mensch ganz auf Gott ausgerichtet, weiß, dass er sich nichts verdienen kann, sondern alles von IHM geschenkt bekommt.  Aber diese Gotteserkenntnis ist keine verzückte Frömmigkeit, kein verklärtes gen Himmel schauen, sondern sie richtet den Blick auf den Nächsten. Für den Propheten ist Gott keine anonyme höhere Macht, keine Urgewalt  und kein sittliches Gesetz, sondern der eine und ewige lebendige Gott. Und er ist barmherzig, er schafft Recht und übt Gerechtigkeit. Jeremia erinnert an zahlreichen Stellen an die großen Taten Gottes, an die Befreiung aus der Sklaverei, an die Wunder während der Wüstenwanderung und den Einzug ins Gelobte Land. Er erinnert auch daran, dass einst das Recht herrschte, heute aber Lüge, Betrug und Eigensinn.

 

Was einst als Solidargemeinschaft begründet wurde, verwandelte sich zur gnadenlosen Rivalität und Konkurrenz. Das aber bedeutet für den Propheten nichts anderes als die Abwendung von Gott.

 

Franz Werfels Roman, er erschien erstmals 1936, war gedacht als Mahnung gegen verantwortungslose Herrschaft und es war ein verschlüsselter Aufruf, Widerstand zu leisten gegen einen totalitären Ungeist, gegen Selbstüberhebung und gegen die Allmacht des Staates.

 

Ich bin überzeugt: Wenn ein Mensch seinen Blick ganz auf Gott und seine Botschaft der Liebe richtet, aus ihm heraus lebt, dann erkennt er den Menschen neben sich, ganz besonders den Leidenden, den Bedrückten, den Entrechteten, den Schutzbedürftigen. Deshalb sagt wohl auch Jeremia: Wenn ihr Gott erkennt, dann seid ihr wirklich weise, denn dann erkennt ihr, dass es ein Gott ist, der Recht schafft und der barmherzig ist. Wer also Gott erkennt, der wird für seinen Nächsten einstehen und ihm beistehen, der wird erkennen, dass es wahrhafte Größe nur gegen und nie mit der Welt gibt, und die Stimme des Propheten mehr Gewicht hat als der ganze Lärm um uns herum. Und wer Gott erkennt, wird seinem Nächsten ein Diener sein, ohne sich dessen zu rühmen.