Erfüllte Zeit

19. 02. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Lasten tragen helfen“ (Markus 2,1 – 12)
von Michael Rosenberger

 

 

Menschen, die sich in einer tiefen Depression befinden, können am Morgen oft nicht aufstehen. Diese für gesunde Menschen alltägliche und selbstverständliche Initiative bringen sie einfach nicht zusammen. Wie gelähmt bleiben sie im Bett liegen, und es kann Mittag werden, bis sie die Kraft finden, den ersten Schritt in den Tag zu setzen.

 

Von einem solchen Menschen erzählt die vorhin gehörte Stelle aus dem Markusevangelium, so wie ich sie verstehe. Ich erfahre weder die Ursache noch die Dauer seiner Lähmung. Und doch spüre ich intuitiv die tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit dieses Menschen. Er scheint keine Perspektive für ein besseres Leben zu haben.

 

Aber er hat gute und treue Freunde. Und die erkennen die einmalige Chance, die sich bietet: Jesus ist im Dorf. So tragen sie den Gelähmten aus der Ferne herbei, decken das Dach des Hauses ab, in dem Jesus sich aufhält, durchbrechen die gemauerte Decke und lassen die Trage mit dem Gelähmten direkt zu Jesu Füßen hinab. Mit großer Konsequenz und Energie beseitigen sie alle Hindernisse – bis sie ihr Ziel erreicht haben. Was müssen sie doch für ein Vertrauen gehabt haben, dass dieser Rabbi ihnen helfen wird! Welch große Zuversicht muss sie erfüllt haben, dass hier etwas in Bewegung kommen kann! – Der Gelähmte ist wahrlich gesegnet mit solchen Freunden.

 

Und Jesus? Er spürt offenbar, dass die Lähmung des Mannes eine tiefere Ursache hat. Nicht ein Unfall oder eine neurologische Erkrankung stecken hinter der Bewegungsunfähigkeit, sondern ein unbewältigter Konflikt, ein verdrängtes Ereignis schwerer Schuld. „Deine Sünden sind dir vergeben“, sagt Jesus zu dem Gelähmten, „lass das Alte hinter dir – du darfst neu anfangen.“ Und während die Pharisäer noch diskutieren, ob ein Rabbiner Sünden vergeben darf, spürt der Gelähmte, wie ihm eine gewaltige Last von den Schultern abfällt. Befreit steht er auf – zuerst vielleicht ein wenig unsicher und schwankend, dann aber immer stabiler und fester auftretend. Alle Mühsal des Lebens scheint von ihm genommen.

 

Beim Lesen dieser Geschichte fallen mir Begebenheiten ein, in denen ich selber Menschen getragen habe und ihnen auch aus dem Glauben Hoffnung geben konnte: „Steh auf und geh!“ Nicht immer ist es einfach, treu und verlässlich bei einem Menschen auszuharren, der in einer Lebenskrise steckt. Doch wenn es gelingt, dass er wieder Licht am Ende des Tunnels sieht, dann haben sich alle Mühen gelohnt.

 

Ich bin aber auch dankbar für Menschen, die mich in den Krisen meines Lebens getragen haben. Sie haben dafür gesorgt, dass ich spüren durfte, wie Jesus sich zu mir wendet und mir sagt: „Steh auf und geh!“