Erfüllte Zeit

26. 02. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Die Mitgeschöpfe verstehen“ (Markus 1,12 – 15)
von Michael Rosenberger

 

 

Seit der englische Schriftsteller Nicholas Evans im Jahr 1995 seinen Roman „Der Pferdeflüsterer“ veröffentlichte, der drei Jahre später verfilmt wurde, ist die Bezeichnung „Tierflüsterer“ in unseren Alltagswortschatz aufgenommen worden. Ein „Tierflüsterer“ – das ist einer, der die Sprache der Tiere versteht – ihre Blicke und Gesten, ihre Laute und Verhaltensweisen. Tiere sind individuelle „Persönlichkeiten“. Sie kommunizieren mit Menschen, die dafür offen sind – und an den Menschen liegt es, sie als Individuen wahrzunehmen und in Gemeinschaft mit ihnen zu leben.

 

Im vorhin gehörten Evangelium erzählt Markus, dass Jesus ein solcher „Tierflüsterer“ war: „Er lebt bei den wilden Tieren“, heißt es da ganz nüchtern. Das aber war auch damals alles andere als selbstverständlich. Wilde Tiere galten als unheimlich und gefährlich, als Nahrungskonkurrenten des Menschen und als seine Gegner. Anders als die Nutztiere, mit denen der Mensch ein familiäres, von Vertrauen und Fürsorge geprägtes Verhältnis hatte, waren Wildtiere für ihn fremd und bedrohlich.

 

Jesus aber lebt nach dieser Erzählung bei den wilden Tieren. In der Einsamkeit der Wüste kommt er gut mit ihnen aus. Er respektiert sie – und sie respektieren ihn. Er ist gleichsam der neue Adam, der mit den Tieren im wunderbaren Garten der Schöpfung zusammenlebt, die natürlichen Ressourcen und Lebensräume teilt und eine einträgliche Beziehung zu ihnen unterhält. So verwirklicht sich, was der Prophet Jesaja im Alten Testament über den Messias geweissagt hatte (Jes 11, 6 - 8): „Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panter liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange.“

 

Haustiere und Wildtiere, Wildtiere und Menschen leben in Frieden miteinander. Eine großartige Vision, ein wunderbarer Traum. Aber nur ein Traum? Nein. Für Jesus ist das – so entnehme ich dieser Erzählung – bereits ein Stück Wirklichkeit. Genau daran erkennt er die Herrschaft Gottes. Denn unmittelbar nach dieser Erfahrung geht er nach Galiläa und predigt: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe!“ Ja, wenn Mensch und Tier miteinander in Frieden leben; wenn das Paradies zum blühenden Garten für alle Geschöpfe wird; dann ist Gottes Herrschaft angebrochen.

 

„Kehrt um!“, ruft Jesus in dieser Erzählung, die die römisch-katholische Kirche an den Beginn der Fastenzeit gestellt hat, „glaubt an diese Herrschaft Gottes über all seine Kreaturen!“ So könnte die Fastenzeit eine Zeit sein, in der auch ich aufmerksam auf meine Mitgeschöpfe achte – die Tiere, denen ich begegne, und die, die mich nähren; in der ich ihre Signale wahrnehme und ihre Sprache verstehen lerne; in der ich ihre Würde respektiere und in der sie mir ans Herz wachsen wie Jesus. Vielleicht steckt ja auch in mir ein „Tierflüsterer“.