Erfüllte Zeit

04. 03. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Kommentar zu Jesaja 5, 1 – 7
von Pfarrerin Ines Knoll

 

 

Wenn ich bedenke, alle die Lieder der Welt. Und die Preise für den Gesang. Die Rekordzahlen von Produktionen, die gefüllten Konzertsäle…

… dass Menschen außer sich sind, weil Jessy Norman singt oder Placido Domingo oder weil Amy Winehouse und Whitney Houston starben.

Wenn ich bedenke, wo überall wir ihre Musik hören, die Songs der Großen, die Millionen und Abermillionen erreichen. Auch gehen sie zugrunde an diesem Übermaß…

 

Wenn ich bedenke: Wes' Brot ich ess, des' Lied ich sing…

Wer singt für wen?

 

Eine Frau am Nebentisch im Café ist weltverwirrt und sie redet vor sich hin – so ein Gejammer der Zeit kommt aus ihrem Mund, die Sprache ist gefetzt wie ihre Seele und all die Ungeister rufen in einem Singsang aus ihr…

Wer singt für wen?

Und warum?

Warum singt ein Mensch?

 

„Ich sing’, weil ich ein Lied hab…“

„ich sing, weil ich ein Lied hab,

nicht weil es Euch gefällt“, singt Konstantin Wecker einmal.

 

Singen sich eigentlich alle, die singen, die Seele aus dem Leib?

Ja, das ist meine Sehnsucht, wenn ich Euch zuhöre in jedweder Musik. Ich will die Seele hören. Die Seele aus dem Leib sollen sie sich singen. Der Anspruch ist, glaube ich, gerechtfertigt. Es ist nämlich die Sehnsucht des Sängers, der Sängerin selbst: die Menschen zu erreichen mit dem Lied. Weil es die Botschaft auf die Bühne, in das Mikrophon, auf die CDs und USB-Sticks, weil es die Botschaft über alle Sender zu den Menschen trägt, ist es als Seele aus dem Leib gesungen: Das Lied bringt die Botschaft.

 

Jesajas Weinberglied bringt die Botschaft.

Jesaja singt sich die Seele aus dem Leib. Jesaja singt sich nicht seine Seele aus dem Leib. Jesaja singt sich die Seele Gottes aus dem Leib, aus seinem Prophetenleib singt er sich die Schmerzseele raus. Als er anhebt zum Gesang, da rechnen die Menschen mit einem Liebeslied. „Wohlan, ich will meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe…“  Ja, man hörte solche Gesänge gerne in Israel, Gesänge, die vom Leben schwärmten und der Liebe und der Schönheit: Der Weinberg ist ein vertrautes Bild für die Geliebte. Ich kann mir die Seelenbehaglichkeit gut vorstellen und die Hörbereitschaft. Ja, sing uns mehr von der Geliebten und vom geliebten Leben! Das kennen wir ja, wenn ein paar wenige Akkorde anklingen und wir uns schon wiegen im freundlichen Gewoge der Töne…

 

Es schlägt aber um, das Lied nämlich will um sich schlagen. Jesaja verführt durch die  schönen Töne nur hin zur Wahrheit Gottes, und Gott ist zornig und voller Trauer. Es ist ein Gott, der alles für das geliebte Leben getan hat. Nichts hat er fehlen lassen an seinem Weinberg, ach sein Herz hing daran! Er hat sein Volk in das verheißene Land geführt, hat von seinem Lebenstraum durch die Propheten die Menschen wissen lassen, was recht ist und würdig. Er hat den Fragen der Menschen einen Rahmen gegeben und Halt in seinen Geboten. Ihrem Glauben hat er ein Zuhause geschenkt: den Tempel zu Jerusalem. Die Menschen aber haben es nicht geachtet, lieber dienen sie den Götzen und hängen ihr Herz ans Geld und den Gewinn und leben rücksichtslos für sich. Nur für sich: Ich Ich Ich – da ist kein Platz für Gott!

 

Wer singt für wen?

Jesaja singt für Gott, singt nicht für sich und seinen Erfolg. Er ist berufen, die Gottessehnsucht zu verkünden. Und lese ich in seinem Buch, dann kann ich das traurige Gesicht des Sängers sehen, der singen muss von Gottes Gericht.

 

Und alle hören ihm zu und sie staunen im Hören. Denn unversehens werden aus Zuhörenden Angeklagte, die über sich selbst entscheiden: „Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg.“ Und alle müssen beipflichten, dass Gott einen solchen Weinberg zerstört. Wenn er ja das Unkraut der verzerrten menschlichen Existenz ist: Korruption und Größenwahn und Gier und Machtmanie…

 

Und Jesaja trifft mich und meine Zeit mit seinem Lied. Und ich bitte mit dem heutigen Sonntag Reminiscere, dessen liturgischer Eingangsvers lautet: „Gedenke, HERR, an deine Barmherzigkeit.“ Ich glaube, Gott geht dieser Bitte nach für sein Volk, das er erlösen wird und für Christen in seinem Sohn, der für die Welt das Gericht auf sich nimmt. Es trifft ihn selbst. Er gedenkt bis in den Tod an Gottes Barmherzigkeit und an seine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind. Was für ein Trost über dem Irrtum, all den Fragen und den Klagen…