Erfüllte Zeit

18. 03. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Kommentar zu Johannes 3, 14 – 21
von Wolfgang Treitler

 

 

Der Text des Evangeliums, der heute in den katholischen Kirchen gelesen wird, ist ein Ausschnitt aus einem längeren Gespräch, das der Evangelist Johannes zwischen Jesus und dem Pharisäer Nikodemus in Szene gesetzt hat. In allen Gesprächen, die Johannes in seinem Evangelium erzählt hat, überragt Jesus seine Gesprächspartner himmelhoch, so auch hier Nikodemus, den Johannes in dunkler Nacht zu Jesus kommen sieht. Wer den Evangelisten halbwegs gut kennt, ahnt die Tendenz schon: Nikodemus schleicht im Schutz der Nacht zu Jesus, damit ihn die Juden nicht entdecken, diese Söhne der Finsternis. Enttäuscht über seine Glaubensbrüder und -schwestern, die sich nicht dem Messias, also dem Christus Jesus, angeschlossen hatten, schreibt der Verfasser des Johannes-Evangeliums gegen seine Herkunftsreligion an. Und er lässt diesen Nikodemus nun auch auf einen Jesus treffen, der das Jüdische gründlich abgestreift hat. Jesus ist bei Johannes der große Denker, der dem Fleisch – dem jüdischen Fleisch – den Geist der Wahrheit entgegenhält. Und weil Nikodemus das nicht verstehen kann, hört er von Jesus, wie Johannes es darstellt, auch einen herablassenden Vorwurf: „Du bist Lehrer Israels und verstehst das nicht?“

 

Man hört also und versteht: Fleisch, Finsternis, Unverständnis, Sünde, Geistlosigkeit – sie sind nach Johannes das Erbteil der - wie er es meint - verstockten Juden. Damit wurde Johannes ungeachtet seiner jüdischen Herkunft zu einem der frühen Väter der christlichen Abneigung gegen Juden, ja auch des Hasses auf Juden und Jüdisches, und verbindet diese Aversion unmittelbar mit seiner Sicht des Jesu, den er zum platonischen Lehrer gewandelt hat.

 

Doch die Auslöschung des Jüdischen bei Jesus hielt der Judenchrist Johannes nicht überall durch. Im Rahmen des Gesprächs Jesu mit Nikodemus blitzt es am Beginn der Evangeliumsstelle hervor. Da sagte Jesus: „Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, in ihm das ewige Leben hat.“

 

Damit weist Jesus auf den Größten der Propheten hin, auf Mose, und auf ein Beglaubigungszeichen des Moses, das dieser in einer ganz entscheidenden Stunde von Gott erhielt. Mose wurde nämlich zum Pharao geschickt mit einem klaren Ziel: Es geht um die Befreiung Israels aus der Abhängigkeit und Unterdrückung von der Herrschaft des Pharaos, der ein Gottkönig war. Die Schlange, die aus seinem Stab wurde, als er ihn zu Boden warf, macht deutlich: Mose ist von Gott gesandt, und er ist gesandt dafür, dass Israel aus einer ganz klar umrissenen Sklaverei loskam, die politisch real war, das Leben und die Zeit Israels beherrschte und ruinierte.

 

Doch es ist, als hätte der Evangelist Johannes keine Augen mehr für das Fleisch, für die Körper der Unterdrückten. Er führt mit seiner Jesus-Gestalt aus der Zeit hinaus in die Ewigkeit, wie er vom Fleisch weg wies in den Geist. Ihm geht es ums ewige Leben und ums Gericht – und alles hängt an Jesus.

 

Dieses Ziel ewigen Lebens ist und bleibt wichtig.

 

Darunter aber, in den Zeiten, in denen nach wie vor versklavt, geprügelt, gefoltert wird, damals wie heute – wird das alles denn nicht berührt von diesem Jesus und seinem Licht? Warum steht er bei Johannes nicht für den Exodus, also für den realen Kampf um reale Befreiung, warum steht Jesus bei Johannes – vielleicht nur noch – für eine in die Himmelshöhen ziehende Erkenntnis, auf deren Gipfeln eigentümlich fremde Ruhe herrscht, wie mir scheint? Was ist es denn um das geplagte Fleisch, um die wimmernde Beute der Diktatoren? Was ist es denn um das Licht, das, wenn ich Johannes beim Wort nehme, möglicherweise so schwach war, dass es die Finsternis nicht überwand? Und von welcher Finsternis ist denn überhaupt noch zu sprechen, heute, 1900 Jahre nach Johannes? Ich weigere mich, seine Identifikation von Juden und Finsternis auch nur im Geringsten zu akzeptieren.

 

Deshalb nehme ich diesen scheinbar peripheren Hinweis auf Mose auf, und ich nehme ihn Ernst, eben nicht als eigentlich unnötiges Vorspiel der Ewigkeit, sondern ich nehme ihn Ernst in seiner Bedeutung für gestern, heute und in Ewigkeit: Erlösung spielt sich nicht im Geist ab, ist kein mentaler Trost und führt nicht in eine selige Innerlichkeit eines einzelnen Menschen, wenn draußen, außerhalb von Geist und Innerlichkeit, die Gewalt ihre schauderhaften Feste feiert. Erlösung kommt durch Exodus, durch Auszug aus der Sklaverei. Das aber setzt voraus, dass man die Sklaverei auch klar erkennt und durch Taten wirksam bekämpft. Es gibt den gerechten, den heiligen Zorn, der den Exodus begleitet, den Kampf um Befreiung, hier und heute, in dieser Stunde, in diesem Augenblick.

 

Die Botschaft von Ostern wird leer sein und ein bloßer, wirkungsloser Gedanke an ein Leben danach, wenn die Verhältnisse der Armut und der Unterdrückung, der Tyrannei und der verhängten Körperqualen unangetastet bleiben – das heißt also:

 

Ostern wird leer sein, wenn die Sklaverei durch fiktive Geldwirtschaft, die zurzeit eine Krise nach der andern erzeugt, wenn die Sklaverei durch schmutzige politische Kollaboration, in der der eigene Vorteil um den Preis von vielfältiger Gewalt bewusst in Kauf genommen wird, oder auch wenn die Sklaverei durch die alltägliche Gleichgültigkeit unverändert fortbesteht so, wie sie ist, weil eine Erkenntnis, die sich im Jenseits umtreiben will, ohnmächtig und wirkungslos geblieben ist. Wenn das so bleibt, wird Ostern leer sein.

 

Deshalb bin ich dankbar für den Hinweis auf Mose, den Johannes mit der Gestalt seines Jesus gibt. Denn er erinnert an das Erbe Israels im Christentum, das es niemals vergessen darf und wieder erinnern muss: Erlösung hat mit den Menschen zu tun, mit ihrer Geschichte, gerade auch mit ihren Körpern, mit ihrem Fleisch – nicht dass die Menschen davon loskommen, sondern dass sie damit frei leben können und frei leben dürfen. Wenn das geschehen kann, dann kann es getrost Ostern werden.