Erfüllte Zeit

01. 04. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Kommentar zu Markus 11, 1 – 10
von Markus Schlagnitweit

 

 

Triumphale Königshuldigung – Selbsterniedrigung – Tod – neuerliche Erhöhung über die gesamte Schöpfung. Ein dramatischer Bogen spannt sich über die christliche Karwoche, die mit dem heutigen Palmsonntag anhebt. Und dessen biblische Lesungen lassen selbst schon diesen ganzen Spannungsbogen anklingen. Denn heute wird in vielen Kirchen nicht nur die soeben gehörte Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem gelesen, sondern auch noch gleich die Passion Jesu vom letzten Abendmahl bis zur Grablegung. Nur der Ostermorgen bleibt noch ausgespart. Der Palmsonntag bringt nur die ersten drei Sätze der Karwochen-Symphonie zum Klingen: Triumph – Erniedrigung – Niederlage.

 

Eine der möglichen thematischen Klammern, die mein Verstand zwischen diesen drei Sätzen herzustellen imstande ist, heißt: „Enttäuschung“. Die Verwandlung der triumphalen Palmprozession in den grauenvollen Kreuzweg ist nur durch eine ungeheure Enttäuschung erklärbar – eine Enttäuschung, welche die anfangs noch jubelnde Volksmenge von damals nicht zu ertragen fähig oder willens war: Jesus war, Jesus konnte und wollte offenbar nicht der König sein, den das Volk sich erträumt hatte. Dass er nicht auf einem Schlachtross, sondern auf einem Esel daherkam, mochte noch hingehen. Dass er als König aber der Diener aller sein wollte, dass er sich schließlich freiwillig seinen Gegnern auslieferte und nicht einmal an Verteidigung dachte, weder durch Waffen noch durch Argumente – das war offenbar unverzeihlich. Vom Hosannah des Palmsonntags zum Kreuzigungsruf des Karfreitags war es nur ein kurzer Weg.

 

Die Enttäuschung und Zerstörung von Träumen ist offenbar ein Delikt, das mit schweren Sanktionen geahndet wird – auch heute noch. Angesichts der Manipulierbarkeit und Begeisterungsfähigkeit der modernen Mediengesellschaft ist auch heute der Abstand denkbar kurz zwischen Anbetung und Ablehnung, zwischen hype und cast-out, zwischen must have und no go – nicht nur in Mode, Sport oder Politik. Auch Religionsgemeinschaften sehen sich mit dieser unerhörten Spannung zwischen hohen Erwartungen und den Folgen ihrer Enttäuschung konfrontiert.

 

Enttäuschungen können also ungeheure Zerstörungskräfte freisetzen: Das führt mir die Karwoche überdeutlich vor Augen. Dennoch wohnt jeder Enttäuschung eine Dialektik inne, die auch eine Umkehrung dieser destruktiven Kräfte ins Positive ermöglicht. Schon das Wort selbst lässt dieses positive Element anklingen: Wer enttäuscht wird, dem wird das Ende einer bisherigen Täuschung kund, der wird eben ent-täuscht. In der Ent-täuschung findet jene Täuschung ein Ende, in der man bisher gelebt hat. Das mag zu heftigen Reaktionen der Wut und Rache gegen den Urheber dieser Enttäuschung führen. Und wehe, wenn der die vorherige Täuschung schuldhaft selbst verursacht, ja vielleicht sogar noch gefördert hat, indem er absichtlich falsche Hoffnungen und Erwartungen geweckt und genährt hat! Dann muss es verständlicher Weise zu einer negativen, destruktiven Kraftentladung als Reaktion kommen und dabei bleiben.

 

Was aber, wenn eine Enttäuschung nicht nur das Ende einer Täuschung bedeutet, sondern wenn sie zugleich mit diesem Ende auch eine Wahrheit zum Aufleuchten bringt, die bis dahin eben unter dem Schleier der Täuschung verborgen lag? Müsste dann nicht jeder Enttäuschte froh und dankbar sein für seine Enttäuschung? Es ist doch wohl besser, mit einer Wahrheit als mit einer Täuschung zu leben.

 

Dass die Enttäuschung, die Jesus seinen Zeitgenossen bereitete und die ihn selbst ans Kreuz lieferte – dass diese Enttäuschung zugleich den Anfang einer neuen Wirklichkeit und Wahrheit bezeichnet – das ist zumindest die Überzeugung christlichen Glaubens. Und wenn dieser erste Tag der Karwoche mit seinen Lesungen die unmittelbare Nachbarschaft von Triumph und Niederlage Jesu ins Gedächtnis ruft, dann erinnert er mich auch daran, dass dieser Glaube zunächst in einer heilvollen, notwendigen Ent-täuschung wurzelt.