Erfüllte Zeit

08. 04. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Kommentar zu 1.Samuel 2,1-2.6-8a
von Bischof Michael Bünker

 

 

Hanna, der Name kommt vom hebräischen Wort für Gnade, heute könnte sie Gracia oder auf Englisch Grace heißen, Hanna war kinderlos. „Der Herr hatte ihren Leib verschlossen“ heißt es mehrmals (1. Sam 1,5.6 u.ö.). In einer männerdominierten Welt, in der der Wert von Frauen daran gemessen wurde, ob sie Kinder, insbesondere Söhne, Stammhalter, zur Welt bringen, bedeutete Kinderlosigkeit für Frauen zugleich soziale Ausgrenzung, Verachtung und Marginalisierung. Es konnte Hanna nichts Schlimmeres widerfahren. Was war ihr Leben wert? Wodurch konnte sie ihre Existenz, ihr bloßes Dasein rechtfertigen? Hanna steht mit ihrem Geschick in einer Reihe mit Sara (1.Mose 18,9ff), mit Rachel (1.Mose 30,1.2.22-24) und anderen Frauen der Bibel bis hin zu Elisabeth, der Mutter des Täufers Johannes (Lukas 1,5ff. 57ff), mit der eine Brücke hin zur Geschichte Jesu geschlagen wird. Was Hanna im Ersten Testament aus dieser Reihe heraushebt ist der Umstand, dass sie nicht passiv erleiden will, was sie an den Rand drängt und trotz ihrer Traurigkeit und Verzweiflung, die berührend geschildert werden, nicht in der Depression versinkt, sondern dass sie ihr eigenes Lebensschicksal in die Hand nimmt und dagegen aufbegehrt. Sie ist die einzige unter den zahlreichen Kinderlosen, die sich direkt an den Lebendigen, an Gott wendet. Hanna ist eine starke Frau. Im Tempel betet sie um einen Sohn, allerdings - unüblich für die damaligen Sitten – leise, nur ihr Mund bewegt sich. Das sieht der Priester Eli und denkt: Die Frau ist ja betrunken! Er spricht sie an, sie eröffnet ihm ihr Los und das Anliegen ihres Gebetes, worauf sie zum ersten Mal Zuspruch erfährt und die Verheißung erhält: Geh hin mit Frieden; der Gott Israels wird dir die Bitte erfüllen, die du an ihn gerichtet hast (1.Sam 1,17). Wollte er sie nur rasch wieder loswerden und mit einem frommen Wunsch abspeisen? Wie auch immer: Hanna wird schwanger und bringt einen Sohn zur Welt, den sie Samuel nennt, der von Gott Erbetene. Ihn bringt sie drei Jahre später – solange hatte sie ihr Kind gestillt – zum Tempel und tritt dort wieder vor ihren Gott hin, diesmal nicht mit verzweifelten Bitten, die sie leise vor sich hin spricht, sondern mit einem Lied, einem Psalm, den sie wohl mit lauter Stimme singt, heißt es doch: Mein Mund hat sich weit aufgetan, denn ihr Herz ist fröhlich und ihr Haupt ist erhöht. Aber es geht ihr nicht bloß um ihr eigenes Leben, um Selbstverwirklichung, sie besingt nicht nur das persönliche „Mutterglück“. In der unerwarteten Geburt sieht sie die umstürzende Kraft Gottes am Werk, die Kraft, die die sozialen Verhältnisse vom Kopf auf die Füße stellt, die politischen Zustände ins rechte Maß und Lot bringt, ja die Schöpfung im Ganzen im Dasein hält und nicht dem Chaos ausliefert. Befremdlich für heutige Ohren ist vielleicht, dass Gott nicht nur für das Gute einsteht, sondern dass ihm auch das Leiden, der Schmerz, ja selbst der Tod zugeschrieben werden. Gott tötet und macht lebendig, er macht arm und reich, er erniedrigt und erhöht. Aber dies geschieht nicht in blinder Willkür und nicht in einem Dualismus von Gut und Böse, Schwarz und Weiß, der sich als vermeintliches Grundprinzip des Lebens fortsetzen muss in alle Ewigkeit – so nach dem Motto: Krieg hat es immer gegeben – sondern konsequent als Parteilichkeit zugunsten der Marginalisierten, der Elenden und Dürftigen und immer im Licht des neuen Lebens, das als Sieg über den Tod völlig unvermutet und unerwartet, unberechenbar und unverfügbar, hervorbricht. Es ist eben nichts als „channa“, Gnade, was Hanna da besingt. Es geht um das Geschenk, die Gabe des Lebens, um es „auf evangelisch“ zu sagen: es geht um das sola gratia.

 

Hannas Psalm wird zur Vorlage für das Lied der Maria, das Magnifikat (Lukas 1,46-55). Auch für Maria im Zweiten Testament / im Neuen Testament der Bibel wird die unerwartete Schwangerschaft zum Hoffnungszeichen dafür, dass Gott die Verhältnisse umkehrt. Die Mächtigen werden vom Thron gestürzt und die Reichen gehen leer aus, damit so die Geringen aus dem Staub sich erheben können und die leeren Hände der Armen mit ihrem Anteil an den Gütern des Lebens gefüllt werden.

Beide – der Psalm der Hanna und das Magnifikat der Maria – sind wegen dieser Grundausrichtung zu biblischen Leittexten für die Befreiungstheologie geworden. Im europäischen Kontext hat zum Beispiel Dorothee Sölle immer wieder auf diese Tradition hingewiesen.

 

Aber wie lässt sich der Zusammenhang dieses Psalms mit Ostern, mit der Auferstehung Jesu, denken? Äußerlich mag als Anknüpfung die Aussage dienen, dass Gott lebendig macht und aus dem Tod erhöht, was Christinnen und Christen am österlichen Jesus erkennen. Denn Ostern meint nichts anderes als eine Geburt, die Geburt eines neuen Lebens, das dem Tod nicht mehr unterworfen ist, eines ewigen Lebens. Zu hüten hat sich aber jede Auslegung davor, das Lied der Hanna als etwas bloß Vorläufiges zu sehen, bloß eine Ankündigung, die sich dann erst im Osterevangelium als endgültig und erfüllt herausstellt. Dieses Auslegungsprinzip von Verheißung im Alten und Erfüllung im Neuen Testament führt unweigerlich zu einer Abwertung des Judentums als etwas bloß Vorläufigem und zu seiner Enteignung durch christliche Auslegung der Bibel. Stattdessen gilt es zu fragen, was die jüdische Auslegung für das Verständnis des christlichen Glaubens beiträgt. Im Judentum gilt Hanna als Prophetin. Die einzelnen Aussagen ihres Psalms werden in manchen jüdischen Überlieferungen auf konkrete Ereignisse in der Geschichte des Volkes Israel bezogen. So wie Hanna selbst ihre persönliche Erfahrung als eine Art Deutungsschlüssel in den unterschiedlichen Lebensbereichen fruchtbar macht, so machen Christinnen und Christen die Auferstehungsbotschaft für die Deutung ihrer eigenen Erfahrungen fruchtbar. Ostern, die Geburt des neuen Lebens, lässt Menschen ein Fest der Auferstehung feiern – manchmal, wie Marie Luise Kaschnitz schreibt, manchmal mitten am Tag.