Erfüllte Zeit

08. 04. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Geboren bin ich am Karsamstag, dem 16. April 1927, zu Marktl am Inn. Dass der Geburtstag der letzte Tag der Karwoche und der Vorabend von Ostern war, wurde in der Familiengeschichte immer vermerkt, denn damit hing es zusammen, dass ich gleich am Morgen meines Geburtstages mit dem eben geweihten Wasser in der zu jener Zeit am Vormittag gefeierten "Osternacht" getauft worden bin: Der erste Täufling des neuen Wassers zu sein, wurde als eine bedeutsame Fügung angesehen. Dass mein Leben so von Anfang an auf diese Weise ins Ostergeheimnis eingetaucht war, hat mich immer mit Dankbarkeit erfüllt, denn das konnte nur ein Zeichen des Segens sein. Freilich - es war nicht Ostersonntag gewesen, sondern eben Karsamstag. Aber je länger ich nachdenke, desto mehr scheint mir das dem Wesen unseres menschlichen Lebens gemäß zu sein, das noch auf Ostern wartet, noch nicht im vollen Licht steht, aber doch vertrauensvoll darauf zugeht.

 

Ich darf nicht vergessen anzumerken, dass Marktl ganz nah bei Altötting liegt, dem altehrwürdigen Marienheiligtum aus karolingischer Zeit, das gerade in jenen Jahren neuen Glanz empfing, als der ehemalige Pförtner Bruder Konrad von Parzham selig- und dann heiliggesprochen wurde. Später habe ich oft nachgedacht über diese merkwürdige Fügung, dass die Kirche im Jahrhundert des Fortschritts und der Wissenschaftsgläubigkeit sich selbst am meisten dargestellt fand in ganz einfachen Menschen, in Bernadette von Lourdes etwa oder eben in Bruder Konrad, die von den Strömungen der Zeit kaum berührt schienen: Ist das ein Zeichen, dass die Kirche ihre kulturprägende Kraft verloren hat und nur noch außerhalb des eigentliche Geschichtsstroms angesiedelt ist? Oder ist es ein Zeichen, dass der helle Blick für das Wesentliche gerade auch heute den Geringen gegeben ist, der den "Weisen und Verständigen" so oft abgeht? Ich denke schon, dass gerade diese "kleinen" Heiligen ein großes Zeichen an unserer Zeit sind, das mich um so mehr berührt, je mehr ich mit und in ihr lebe.

 

 

(aus: Joseph Kardinal Ratzinger: Aus meinem Leben – Erinnerungen. Deutsche Verlags Anstalt München 1998, S.9f)