Erfüllte Zeit

29. 04. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Kommentar zu  Johannes 10, 11 – 18
von Reinhold Esterbauer

 

 

Der Text aus dem Johannesevangelium interessiert mich, weil er nicht in der Schäferidylle steckenbleibt, sondern jene, die ein Hirtenamt bekleiden, darauf hinweist, dass es für Hirten mitunter um den Einsatz ihres Lebens gehen kann.

 

Die deutsche Schriftstellerin Leonie Swann hat im Jahr 2005 einen Roman mit dem Titel „Glennkill“ veröffentlicht. Darin versuchen Schafe, den Mord an ihrem Hirten, der den Namen Glenn trägt, aufzuklären, was ihnen am Ende auch gelingt. Das Buch, das herkömmliche Krimis persifliert, lebt besonders davon, dass es mit der sprichwörtlichen Dummheit von Schafen spielt. Die Langsamkeit und Begriffsstutzigkeit der Tiere haben wider Erwarten Erfolg.

 

Doch wer würde – außer in einer Persiflage – heute der Dummheit ein positives Zeugnis ausstellen? Umso verwunderlicher ist es, dass Psalm 23 wohl immer noch zu den beliebtesten Psalmen zählt. Er spricht von Gott als dem Hirten, der den Beter auf grünen Auen lagern lässt und ihn an den Ruheplatz am Wasser führt. Ihm wird nichts fehlen – so der Text –, der Stock und der Stab des Hirten geben ihm Zuversicht. Den Betern wird in diesem Psalm allerdings die Rolle von Schafen zugewiesen. Denn die Bilder, die das Gebet bestimmen, unterscheiden klar: Gott ist der Hirte und die anderen sind die Schafe. Zudem erscheint die ganze Szenerie als romantische Idylle. Angesichts dessen stellt sich die Frage: Was kann an solcher Schäferromantik heute noch faszinieren?

 

Ich denke, dass Menschen nur deshalb in Kauf nehmen, mit einem Schaf identifiziert zu werden, weil mit dem Bild von Schäfer und Schaf zugleich ein menschliches Grundbedürfnis angesprochen und seine Erfüllung bei Gott in Aussicht gestellt wird, nämlich die Sehnsucht nach personaler Nähe. Der Hirt wird so dargestellt, dass er nicht nur einer namenlosen Herde gegenübersteht, sondern jene namentlich kennt, für die er Verantwortung trägt. Diese Nähe wird besonders im eben gehörten Text des Johannes-Evangeliums, der die Hirten-Metapher aufnimmt, in den Vordergrund gerückt. Darin sagt Jesus zweimal von sich, dass er der gute Hirte sei. Darüber hinaus behauptet er: „(…) ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich (…)“Wie der Hirte seine Tiere namentlich kennt, so kennt also Jesus die Seinen. Mehr noch: Das Johannes-Evangelium sagt, dass diese Nähe zwischen Christinnen und Christen auf der einen und Jesus auf der anderen Seite der innergöttlichen Beziehung zwischen Vater und Sohn gleicht.

 

Solche Intimität unterscheidet sich grundsätzlich von einer Geschäftsbeziehung, die das Evangelium als Kontrast vorstellt. Wenn es darauf ankommt, eine Gefahrensituation zu bestehen – es wird vom Kommen des Wolfes gesprochen –, wird der bloß bezahlte Schäfer Reißaus nehmen und seine Tiere im Stich lassen. Anders, so erzählt es das Johannes-Evangelium, die Beziehung zwischen Jesus und den Seinen: Persönliche Beziehungen halten auch Krisen aus und werden vielleicht sogar dazu führen, dass einem andere in den Gefährdungen der eigenen Existenz beistehen. Wohl weil sich viele nach solchen Beziehungen sehnen, wird den biblischen Hirten-Texten das Schaf verziehen. Die Aussicht auf Geborgenheit und Sicherheit bei Gott hat es bei Weitem aufgewogen.

 

Das Verhältnis zwischen dem guten Hirten – lateinisch: Pastor –  und seiner Herde ist allerdings ein fragiles. Denn was passiert, wenn der gute Hirt seine Verantwortung vergisst und nicht mehr auf das Wohl seiner Herde, sondern wie der bezahlte Schäfer vor allem auf seinen eigenen Vorteil schaut? Diese Möglichkeit hat dieser Evangelientext nicht im Blick, denn der Hirte dort ist ausschließlich Jesus Christus. Doch in den christlichen Kirchen hat es sich eingebürgert, von Hirten, Oberhirten, Pastoren und von Pastoral – in Zusammenhang mit Seelsorge – zu sprechen und Leitungsfunktionen mit dem Hirtenamt in Verbindung zu bringen. Der französische Philosoph Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass Schäfern große Macht zuwächst, weil das Verhältnis von menschlichem Hirten und Herde kaum durch rechtliche Strukturen geregelt ist, sondern – wie erwähnt – in der personalen Unmittelbarkeit verbleibt. Diese kann leicht missbraucht und in das Gegenteil ihrer eigentlichen Bedeutung verkehrt werden.

 

Im Johannesevangelium wird dieser Gefahr mit folgendem Satz zu begegnen versucht. Jesus sagt: „Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.“ Der Text bleibt also nicht in der Schäferidylle stecken, sondern weist jene, die ein Hirtenamt bekleiden, darauf hin, dass es für Hirten mitunter um den Einsatz ihres Lebens gehen kann. Es reicht nicht aus, die Seinen zu kennen, sondern es geht darum, deren Wohl vor das eigene zu stellen und im Ernstfall das eigene Leben für sie einzusetzen. Für Hirten in kirchlicher Pastoral bedeutet dies, dass sie auch dann, wenn der Notfall nicht eintritt, vor allem auf die Sorgen und Nöte der ihnen Anvertrauten zu achten haben. Eigene Sorgen, wie sie damit bei ihren Vorgesetzten ankommen, sind zweitrangig und werden im Johannes-Evangelium nicht einmal erwähnt.