Erfüllte Zeit

06. 05. 2012, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Kommentar zu Apostelgeschichte 16, 23 – 34
von Univ. Prof. Dr. Susanne Heine, Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie, evangelisch-theologische Fakultät, Universität Wien

 

 

„Die Gedanken sind frei. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen mit Pulver und Blei“ – so beginnt ein bekanntes Lied. Wer ist also frei? Der im Gefängnis sitzt oder der Aufseher? Klar, auch der Aufseher verbringt die meiste Zeit im Gefängnis, aber er kann es verlassen. Die Gefangenen können das nicht. Ihre Gedanken aber sind frei, und das kann das Blatt wenden.

 

Ort des Geschehens: Philippi, eine Stadt im Norden des heutigen Griechenland, vom mazedonischen König Phillip II. gegründet, dem Vater von Alexander dem Großen. Später siedelten die römischen Kaiser dort ihre Kriegsveteranen an, die aus allen Provinzen des Reiches kamen – ein Gemisch aus Völkern und Religionen. Dazu gehörten auch Menschen, die die Vielgötterei satt hatten, an den einen Gott glaubten und nach den ethischen Geboten des Judentums lebten, ohne Juden zu sein. Paulus, der für den christlichen Glauben warb, kam auf seinen Reisen mit seinem Begleiter Silas auch nach Philippi und wandte sich an diese Gruppe, die seiner Botschaft Glauben schenkte. Er gründete dort die erste christliche Gemeinde auf europäischem Festland.

 

Die Römer gehörten nicht immer zu den wohlinformierten Kreisen und hielten die beiden für Juden, die die Stadt in Aufruhr versetzen und gegen die Ordnung der Staatskulte verstoßen. Also ab – vor den Richter, Prügelstrafe, Gefängnis. Der Aufseher in römischen Diensten muss die Anweisungen seiner Befehlshaber sehr ernst nehmen, setzt die beiden in die Zelle und zwängt auch noch ihre Füße in den Block. Denn würden die beiden entkommen, ist er dran und kann sich gleich in sein Schwert stürzen. Kein sehr freies Leben. Um Mitternacht klingen plötzlich Lieder durch das dunkle Gefängnis. Denn nicht nur die Gedanken sind frei, auch der Glaube ist frei. Menschen kann man erschießen mit Pulver und Blei, sie ins Gefängnis sperren, erhängen, den Glauben aber nicht. Paulus und Silas singen Hymnen zur Ehre Gottes. Gesang am falschen Ort, wo sonst gebrüllt und geflucht wird? Genau das. Die beiden passen sich nicht an, sie gehorchen nicht den Gesetzen eines Gefängnisses. Sie leisten inneren Widerstand, spielen ein anderes Programm ein und lassen die Mitgefangenen aufhorchen. Sie setzen ihre innere Stärke gegen die äußere Stärke der Mauern.

 

Paulus und Silas singen Glaubenslieder aus Gottvertrauen. Was kann ihnen schon passieren? Sie sind überzeugt: Sollten sie sterben, kehren sie zu ihrem Schöpfer zurück. Diese Gewissheit macht sie frei. In ihrem Gesang schwingt etwas von Ewigkeit mit. Deshalb sagt Martin Luther in seiner Schrift über die „Freiheit eines Christenmenschen“, dieser sei ein „freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“.

 

Untertan ist der Aufseher seinen römischen Herrn. Ein aufgebrochenes Gefängnis – da bleibt ihm nur die Alternative: Hinrichtung oder Selbstmord. Aber die Gefangenen machen keine Revolte und üben keine Gewalt, sie laufen nicht davon. „Tu dir nichts an“, ruft Paulus. „Wir sind ja alle da!“ Das ist kein politisches Konzept und will es auch nicht sein. Es geht um die innere Freiheit auch in schlimmen Zeiten, damit Wut, Rache oder Verzweiflung nicht zu Befehlshabern werden. Ein Mittel dazu sind Musik und Gesang, denn nichts sonst hat einen so direkten Draht in die Seele. Offenbar haben die Hymnen zur Ehre Gottes das Herz des Gefängnisaufsehers verwandelt und ihn befreit, so dass er den beiden barmherzig die Wunden verbindet.

 

Diese Erzählung passt zum heutigen Sonntag, der in der evangelischen Tradition Kantate heißt – nach Psalm 98: Singt Gott ein neues Lied, denn er hat Wunder getan. Nach einem großen Erdbeben im 7. Jahrhundert sind von der Stadt Philippi nur noch Ruinen übriggeblieben. Noch heute kann in diesem Gebiet die Erde beben. War das auch damals so, als Paulus und Silas im Gefängnis saßen? Wer weiß…